„Die Sklaverei braucht keine Ketten mehr“ – Lydia Cacho

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„Die Sklaverei braucht keine Ketten mehr“ – Lydia Cacho

Menschenhandel und Sex-Mafia: Lydia Cacho, Jahrgang 1963, recherchierte fünf Jahre lang in 47 Ländern. Günter Wallraff sagt, er kenne keine mutigere Frau als sie.

Señora Cacho, wann wurden Sie zuletzt bedroht?

Das ist gar nicht lange her. Ein Mann sagte am Telefon, dass man mir die Hände abhacken und sie meinem Freund schicken würde, wenn ich weiter so viel Quatsch schriebe. Mein Sicherheitsberater hat herausgefunden, dass der Anruf wahrscheinlich von einem Angehörigen des mexikanischen Militärs kam.

Sie haben Personenschützer?

Selbstverständlich, schon seit einigen Jahren.

Das Magazin „Newsweek“ zählt Sie zu den 150 Frauen, die die Welt im Jahr 2010 bewegt haben. Auf der Liste befinden sich auch Michelle Obama, Angelina Jolie und Aung San Suu Kyi.

Das ist mir überhaupt nicht wichtig. Ich werte es lieber als Erfolg, dass ich mit meiner Arbeit einigen der Millionen von Frauen und Kindern eine Stimme geben konnte, die zur Prostitution gezwungen werden. Ich habe fünf Jahre lang in 47 Ländern recherchiert und das Gefühl, dass ich meinen Job als Journalistin erledigt habe: die Welt mit den Augen der Schwachen zu schildern, nicht mit dem zynischen Blick der Starken.

Nun ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit …

… eigentlich ein guter Tag. Doch was erleben wir? Die explosionsartige Ausbreitung der Sklaverei. Laut UN leben zurzeit 27 Millionen Menschen in sklavenähnliche Verhältnissen. Das sind mehr als zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, als zwölf Millionen Afrikaner verschleppt wurden.

Warum haben Sie vorwiegend über Zwangsprostitution recherchiert?

Weil fast 80 Prozent der neuen Sklaven Prostituierte sind, während der kleinere Teil der Sklaven als Hausangestellte, auf Zuckerrohrplantagen oder auf dem Bau arbeitet.

Wo liegt der Unterschied zwischen dieser neuen Sklaverei und der alten?

Die neue Sklaverei braucht keine Ketten mehr, ihre Waffe ist die kapitalistische Verwertungslogik. Diese Ideologie betrachtet den Menschen als Ressource, die ausgebeutet werden kann. Darunter leiden vor allem Frauen und Kinder in den Entwicklungsländern, weil sie keinerlei Schutz genießen.

Eine der traurigsten Szenen in Ihrem Buch handelt von der neunjährigen May, die Sie in einem kambodschanischen Mädchenheim kennengelernt haben.

Sie war eine von etwa 50 000 vietnamesischen Kindersklavinnen, hatte systematische Vergewaltigungen hinter sich – und bewegte sich wie eine Frau, die gelernt hat, Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen. Sie war mit anderen Mädchen im Schwimmbecken, als sie auf einmal rief: „That’s it, baby girl, good job!“ Sie hatte den englischen Satz gelernt, als ihr Oralsex anhand eines Dildos beigebracht wurde. „Yum-Yum“ nennen das die Zuhälter.

Wissen Sie, wie viel die Zuhälter damit verdienen?

40 Euro, die Kinder kriegen nur etwas zu essen. Eine Kindersklavin erzählte mir, dass sie täglich 15 bis 20 Mal „Yum-Yum“ macht. Damit verdient der Zuhälter an einem einzigen Tag mit einem Mädchen bis zu 600 Euro. Das bedeutet, dass in Kambodscha so jedes Jahr rund 150 Millionen Euro zusammenkommen. Das Geld fließt in die Taschen von Barbesitzern, Hoteliers, Taxifahrern, Hotelportiers und korrupten Polizisten, die die Mafiosi beschützen. Kindesmissbrauch ist in Südostasien dank der Sextouristen eine gesellschaftliche Normalität.

Was geschieht mit Kindern, die weglaufen wollen?

Es wird ihnen gesagt, dass sie dann zerteilt und gegessen würden, wie mir einige Mädchen erzählten. Außerdem bedroht man ihre Familien.

Sie beschreiben die Sexsklaverei als neues, globales Phänomen, das nicht nur Kinder betrifft. Wie kommt die Kolumbianerin nach Tokio, die Nigerianerin nach Madrid oder die Thailänderin nach Berlin?

Ein Beispiel: Ich habe in meiner Heimatstadt Cancún ein Frauenhaus gegründet. Eines Tages holten wir eine 19-jährige Venezolanerin aus dem Gefängnis – Arely, mit platinblondem Haar. An ihrem Hals waren Würgemale. Arely war einige Monate zuvor in Venezuela von einer Frau angesprochen worden. Die schmeichelte ihr und meinte, Arely sei so schön, dass sie in Mexiko Model werden könnte. Dort gäbe es eine Menge Dollars zu verdienen. Arely willigte ein und registrierte sich auf der Internetseite divas.com. Die Frau brachte Ticket und Pass – Arely könne das Geld ja in Mexiko zurückzahlen. Doch dort nahmen ihr Komplizen den Pass ab, und es hieß, sie habe 5000 Dollar Schulden.

Sie wurde also zur Prostitution gezwungen, um ihre „Schulden“ zu begleichen?

Erst musste sie in einem Nachtclub tanzen. Eines Tages kam der Chef vorbei und sagte, sie habe zu kleine Brüste. Die müsste sie sich auf eigene Kosten operieren lassen, man würde ihr das Geld vorstrecken, aber auch das könne sie mit der Zeit abbezahlen. Hinzu kam das Schmiergeld für die Aufenthaltserlaubnis und und und. Dann wurde Arely zu einem Unternehmer in ein Hotel gebracht. Es hieß, wenn sie mit ihm schlafe, könne sie auf diese Weise ihre Schulden abbauen. Es folgten weitere Industrielle und Politiker. Sie erfuhr außerdem, dass die Mafia sie mit den Politikern filmte, um diese später zu erpressen. Arely wurde mit Drogen ruhig gestellt, aber es gelang ihr dennoch, irgendwann zu entwischen. Auf der Straße wurde sie festgenommen und im Knast von vier Beamten vergewaltigt. Andere Frauen werden von der Mafia mit roher Gewalt zum Sex gezwungen – die japanischen Yakuza gehen etwa so vor.

Gibt es ein Muster hinter dieser Form der Versklavung?

Natürlich. Da sind zum einen Armut und fehlende Perspektiven für junge Menschen. Dann eine Mode- und Sexindustrie, die Frauen glauben macht, dass es das Tollste auf der Welt sei, zu posieren. Wie oft habe ich von Ex-Prostituierten den Satz gehört: „Ich dachte, ich werde berühmt.“ Doch dann werden die Frauen eingesperrt, mit ihren angeblichen Schulden eingeschüchtert – und wenn sie nicht freiwillig mit Kunden schlafen, vergewaltigt man sie, um ihren Widerstand zu brechen.

Die Behörden kooperieren mit der Mafia?

Arely wurde in einem Privatjet nach Cancún gebracht und dort am Flughafen im Regierungsbereich abgefertigt! Es ist von Japan über Thailand und Israel, von der Türkei über Italien bis Mexiko völlig üblich, dass Polizisten, Politiker und Richter sich entweder von den Menschenhändlern schmieren lassen oder selbst zu guten Kunden der Etablissements gehören.

Ist es deshalb so schwer, den Menschenhandel zu bekämpfen?

Ja. Nehmen Sie den Einwanderungsbeamten, der wegsieht, wenn junge Vietnamesinnen als Haushaltskräfte nach Frankreich gebracht werden, die in Wirklichkeit im Internet als Ehefrauen gekauft wurden. Ich habe den Berater des kambodschanischen Wirtschaftsministers getroffen, der selbst ein Mafioso ist; der japanische Polizeiminister beschützt die Yakuza. Wenn in Parlamenten über die Prostitution debattiert wird, schützen manche Abgeordnete die Interessen des organisierten Verbrechens.

Die FDP-Abgeordnete im Europa-Parlament, Silvana Koch-Mehrin, sagte mit Blick auf die vielen Prostituierten in Straßburg, dass sich auch privat entsprechend verhalten müsse, wer im Parlament die Zwangsprostitution verurteile.

Natürlich! Weil in Europa vor allem ausländische Frauen aus armen Ländern betroffen sind, sehen viele Regierungen kaum Handlungsbedarf. Die eher konservativen Schätzungen der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass es in Europa 140 000 Opfer von Zwangsprostitution gibt. Es ist eine einfache Rechnung: 50 Millionen sexuelle Dienstleistungen à 50 Euro im Jahr – macht 2,5 Milliarden Euro. Steuerfrei.

Und weltweit …

… verdient die Menschenhändlermafia nach UN-Angaben jedes Jahr 135 Milliarden Dollar.

Was haben Ihnen die Frauen und Mädchen, die Sie getroffen haben, über ihre Gefühle erzählt?

Die meisten empfinden Verachtung. Kinder und Jugendliche leiden extrem, weil viele Freier ein romantisches Ambiente schaffen, wohl um sich weniger schuldig zu fühlen. Doch das nährt die falsche Hoffnung der Mädchen, ein Kunde werde sie bald aus ihrer Situation befreien. Aber wissen Sie, was sollen denn Frauen, die von Männern zum Oralsex gezwungen werden, die gewürgt, geschlagen und beschimpft werden, überhaupt noch von Männern halten? Die meisten dieser Frauen leiden unter posttraumatischen Stresssyndromen: Sie sind sozusagen von ihren Gefühlen abgeschnitten und spüren bestimmte Körperteile gar nicht mehr, insbesondere ihren Genitalbereich. Nur so können sie jeden Tag 15 bis 20 Männer ertragen. Eine 21-jährige Kolumbianerin, die ich in Tokio traf und die dort von den Yakuza versklavt wurde, führte Buch über ihre Freier. In einem Notizbüchlein im Hello-Kitty-Design hatte sie in acht Monaten 1320 Kunden notiert.

Als Reporterin haben Sie sich selbst als Prostituierte verkleidet, um Zugang zur Szene zu erhalten. Waren die Männer offener, weil Sie kostümiert waren?

Eine ehemalige Nachtclubtänzerin, die mir auch bei meinen Outfits geholfen hat, gab mir einen Rat, der eigentlich nach einer Binsenweisheit klingt: Das Wichtigste sei es, den Männern zuzuhören. Es ist wirklich schwer zu glauben, was meine Verkleidung und ein kokett-unterwürfiges Verhalten bewirkte. Die Männer erzählten mir Dinge, die sie mir als Reporterin niemals gesagt hätten. Viele schimpfen über den Feminismus im Westen, der schuld sei an ihrer Einsamkeit und sexuellen Frustration. Er habe den westlichen Frauen die Weiblichkeit geraubt.

Sie sind mit dem Undercover-Reporter Günter Wallraff befreundet. Hat er Ihnen Tipps gegeben?

Von Günter habe ich den engagierten Journalismus gelernt, für den man manchmal eine falsche Identität annehmen muss, weil man sonst bestimmte Dinge nicht erfährt. Wir haben in Mexiko-Stadt lange miteinander geredet, und es hat mir sehr geschmeichelt, als Günter sagte, ich sei die mutigste Frau, die er kenne.

In Deutschland ist die Prostitution legal, weil man glaubt, so die Zuhälterei zu bekämpfen.

Unsinn. Die Legalisierung hat der Zwangsprostitution Tür und Tor geöffnet. Nach Schätzungen der Organisation Hydra kommen mehr als die Hälfte der 400 000 Prostituierten in Deutschland aus dem Ausland, die meisten aus Osteuropa. Es folgen Lateinamerika, Thailand und Afrika. Die Mehrzahl dieser Frauen wurde illegal eingeschleust und zur Prostitution gezwungen.

Señora Cacho, bereits 2005 haben Sie einen Kinderpornoring in Cancún aufgedeckt, in den mächtige mexikanische Industrielle, Politiker und Offizielle verwickelt waren. Daraufhin wurden Sie entführt und gefoltert.

Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber ich erkläre Ihnen den Hintergrund: Einer der Anführer der Mafia, der Hotelier Jean Succar Kuri, bat seine Freunde, den Textilunternehmer Kamel Nacif und den Gouverneur von Puebla, Mario Marín, mich festnehmen zu lassen. Die Telefongespräche zwischen Nacif und Marín sind dokumentiert worden. Darin diskutieren sie, wie man mich aus dem Weg räumen könnte. Dann wurde ich von Polizisten entführt und in einem Auto mehr als 1000 Kilometer durch Mexiko gefahren. Die Männer sagten, sie würden mich vergewaltigen und umbringen. Ich wurde in ein Gefängnis gesteckt und gefoltert. Nur dank des Einsatzes von Kollegen, Freunden und Menschenrechtsorganisationen lebe ich noch.

Nachdem Ihre Enthüllungsgeschichte erschienen war, erhielten Sie ein zweifelhaftes Angebot.

Ich war mit zwei Freunden in einem Restaurant, wir tranken Tequila. An einem Nebentisch saß ein kräftiger Mann mit zwei Blondinen. Als er uns eine Sektflasche schickte, lehnte ich dankend ab. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Auf dem Rückweg von der Toilette fing er mich dann ab. Er sagte, er bewundere meine Arbeit und habe etwas gegen die Perversen, die ich hatte auffliegen lassen. Er bot mir an, den Gouverneur und Nacif umzulegen. Ich sollte mich wieder setzen, und wenn ich eine Serviette fallen ließe, wüsste er, was zu tun sei. Ich habe dann meinen Freunden gesagt, dass wir sofort alle Servietten in die Mitte unseres Tisches schieben, damit keine aus Versehen herunterfällt.

Wissen Sie, wer dieser Mann war?

Der örtliche Chef der Zetas, dem brutalsten Drogenkartell Mexikos, das in den letzten Jahren Zehntausende Morde begangen hat. Die Macht dieser Leute ist so groß, dass sie sich in aller Öffentlichkeit zeigen können.

Woher nahmen Sie eigentlich die Kraft, nach Ihrer Entführung weiterzumachen?

Schon als ich in diesem Auto saß, habe ich mir geschworen: Wenn ich das hier überlebe, lasse ich mir den Mund nicht verbieten. Ich bin keine Heldin und keine Märtyrerin, aber meine Mutter hat mir beigebracht, dass man in bestimmten Ländern und Situationen seine Freiheit und sein Glück verteidigen muss.

Sie haben über Jahre hinweg Geschichten von Ungerechtigkeiten und Gewalt gehört. Immer traf es die Schwächsten. Die Welt muss Ihnen wie eine Hölle vorkommen, unzivilisiert und kalt.

Im Gegenteil. Ich führe ein gesundes Liebesleben, ich habe einen liebevollen Partner. Ich versuche trotz der ständigen Drohungen, ein so normales Leben wie möglich zu führen. Eine Methode ist, diese Geschichten nicht mit ins Bett oder an den Esstisch zu nehmen, außerdem mache ich seit 20 Jahren Yoga. Der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz hat gesagt, das große moralische und spirituelle Elend der liberalen Demokratien sei ihre Gefühllosigkeit. Das Geld habe die Erotik getötet, weil es die Seelen und Herzen zerfressen habe.

Erlebten Sie bei Ihren Recherchen private Momente großer Trauer oder Verzweiflung?

Entweder man arbeitet mit dem, was einem widerfährt und versucht zu reifen. Oder es arbeitet mit dir und zerstört dich. Ich habe mich für Ersteres entschieden. Trotzdem habe ich viel geheult und in der Badewanne gesessen, um die Traurigkeit abzuschrubben. Zum Beispiel, nachdem ich ein Mädchen mit Narben am ganzen Körper getroffen hatte. Ein westlicher Freier hatte es maskiert, mit einem Messer misshandelt und dabei gefilmt.

Sie fordern oft eine „Revolution der Männlichkeit“. Was meinen Sie damit?

Dass Schluss sein muss mit der patriarchalen Vorstellung, dass Männer sich nur in der Pornografie sexuell frei ausdrücken können. Es herrscht im Grunde weltweit die Vorstellung, dass Männer unfähig seien, ihre Libido zu kontrollieren. Also akzeptieren die meisten Gesellschaften die Prostitution, weil diese angeblich verhindern solle, dass die Männer wie Tiere durch die Gegend rennen und sich anständige Frauen nehmen.

Frankreich, Spanien und die USA haben Ihnen politisches Asyl angeboten. Sie haben trotz der Ermordung von Kollegen und Freunden abgelehnt.

Nur weil ich meinen Job gut mache, soll ich aus meinem Heimatland fliehen? Das will mir wirklich nicht in den Kopf.