“Die Kamera ist Teil meiner Hand” – Sebastião Salgado

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“Die Kamera ist Teil meiner Hand” – Sebastião Salgado

    Der Fotograf Sebastião Salgado, geboren 1944, lebt für seine Sozial-Reportagen monatelang unter Armen, in der Wüste oder im Dschungel.  Doch wie entstehen seine Bilder?

    Herr Salgado, Sie gelten als der letzte große Reportagefotograf, gleich eröffnen Sie in Berlin Ihre Ausstellung über Kaffeearbeiter. Woher kommen Sie gerade?

    Ich bin vor einigen Tagen aus Papa-Neuguinea zurückgekehrt, wo ich zwei Monate im Urwald gelebt habe. Es war heiß, feucht, es gab jede Menge Moskitos und anderes Gewürm. Mir ist eine winzige Fliege ins linke Auge geraten, und ich brauchte 13 Stunden, um sie wieder herauszupulen.

    Das linke Auge, das Sie beim Fotografieren immer zukneifen?

    Hier, Sie können das sehen. Es ist ohnehin ständig leicht entzündet. Aber das ist mir alles egal, wenn ich in dieser wahnsinnigen Natur arbeite. Ich habe mit den Ureinwohnern gelebt, war die ganze Zeit unter Tieren. In solchen Situationen werde ich komplett eins mit mir und meiner Umwelt. Als ich wieder in Paris war, fühlte ich mich eingesperrt in meiner Wohnung innerhalb einer großen, dreckigen Stadt. Die ganze Entspannung war weg. Plötzlich gibt es wieder all diese Gespräche, die Absprachen, die Interviews…

    Tut uns leid!

    Nein, Sie können nichts dafür. Aber es ist die Hölle. Ich arbeite gerade an einem Projekt, das auf acht Jahre angelegt ist, vier habe ich noch vor mir.

    Sie meinen „Genesis“. Fotos von noch unzerstörten Landschaften, Wüsten, Urwäldern, der Antarktis.

    Ja, Projekte dieser Größenordnung brauchen eine ungeheure Vorrecherche, fast wie ein Film. Mein Team in Paris besteht aus acht Leuten, man muss Feiertage kennen und in die Antarktis kann man zum Beispiel nur zwischen Dezember und Ende Februar. Aber ich verrate Ihnen was: Wenn ich endlich fotografieren kann, beginnen für mich die Ferien.

    Wie müssen wir uns so einen Ferientag vorstellen?

    Nehmen wir die Bilder über die Kaffeearbeiter. Ich habe sie an insgesamt 15 Tagen geschossen. Aber sie begannen früh: um vier Uhr morgens, mit dem ersten Licht. Dann ist man die ganze Zeit mit den Arbeitern zusammen, passt sich ihrem Rhythmus an, man bemerkt überhaupt nicht, dass die Zeit verstreicht.

    Ruhen Sie sich zwischendrin im Hotel aus?

    Niemals. Ich hätte Angst, etwas zu verpassen. Nach der Arbeit setze ich mich mit den Leuten zum Essen hin, wir unterhalten uns. Die Zeit gewinnt ein anderes Maß. Ich habe mal mit Indianern am Amazonas gearbeitet. Als ich sie fragte, wann sie zum Fischen fahren, hat einer seinen Arm ausgestreckt und gen Himmel gezeigt. Ich wollte dann wissen, wann sie jagen? Der Mann reckte wieder den Arm in den Himmel, diesmal woandershin. Da begriff ich, dass er mir zeigte, wo die Sonne dann stehen würde. Man muss in diesen Momenten als Fotograf einfach da sein.

    Aber wie verständigen Sie sich?

    Ich spreche Portugiesisch, Französisch, Englisch und Spanisch, aber ich brauche die Sprachen gar nicht. Ich bin wie ein Fisch im Wasser. Es gibt nicht mehr viele Kollegen, die sich diese Zeit nehmen und mit ihrer Umgebung verschmelzen.

    Steht nicht immer die Kamera zwischen Ihnen und den Menschen?

    Ehrlich gesagt, manchmal merke ich gar nicht, wenn ich ein Foto mache. Ich bewege einfach meine Finger, die Kamera wird Teil meiner Hand.

    Das klingt wie Meditation.

    Absolut, die totale Konzentration. Die BBC hat einmal eine Dokumentation über mich gedreht, und als ich die ansah, habe ich entdeckt, dass ich beim Wechseln der Filme immer wieder singe. Nicht zur Ablenkung, sondern um meine Konzentration zu halten, weil der Filmwechsel ja immer eine Unterbrechung der Sequenz ist, die man gerade aufnimmt.

    Seit Ihr Kollege Henri Cartier-Bresson den Begriff des „perfekten Moments“ geprägt hat, waren Generationen von Fotografen auf der Suche danach.

    Für mich ist es anders. Das Fotografieren ist wie eine Kurve, auf der man sich bewegt. Sie steigt an, und auf dem höchsten Punkt machen Sie Ihre besten Bilder. Cartier-Bresson sprach nur von dem Höhepunkt. Aber ich mache vorher Bilder und nachher. Ohne das Vorher und das Nachher gäbe es auch diesen besten Moment nicht. Ich komme nicht mal eben von außen in eine Situation, erkenne den perfekten Moment, drücke auf den Auslöser und verschwinde wieder. Ich lebe in dieser Kurve. Sie kann eine Stunde dauern oder auch eine Woche.

    Der richtige Moment existiert für Sie nicht?

    Alle Momente sind der richtige Moment. Wichtig ist das ganze Phänomen.

    Aber auch Sie wurden berühmt mit Fotos von einem besonderen Moment: dem Attentatsversuch auf Ronald Reagan 1981.

    Ach, das war doch nicht der Beginn meiner Karriere. Ich war damals schon Magnum-Fotograf. Die „New York Times“ wollte, dass ich Reagan ein paar Tage begleite, dann fielen die Schüsse. Aber die Fotos waren nie etwas Besonderes für mich. Ich habe in 60 Sekunden rund 70 mal auf den Auslöser gedrückt. Normalerweise stecken in meinen Büchern mehr als vier Jahre Arbeit.

    Sie sind bekannt dafür, dass Sie ausschließlich mit Schwarzweißfilmen arbeiten…

    …soll ich Ihnen was verraten? Ich habe angefangen, digital zu fotografieren.

    Wie bitte?

    Die Qualität der Filme hat extrem nachgelassen. Früher hatten Schwarzweißfilme einen hohen Silberanteil. Silber ist aber teuer. Vor zwanzig Jahren war die Qualität eines Kleinbildnegatives besser als heute die Qualität eines Mittelformats, das dreieinhalb Mal so groß ist. Man kann das an den alten Abzügen sofort sehen.

    Wie verändert das Ihre Arbeit?

    Erstaunlicherweise ändert es gar nichts. Ich mache Kontaktbögen wie mit den Filmen, ich nehme mir die Lupe und suche die Bilder aus. Dann werden Arbeitsabzüge in 13 mal 18 gemacht, der einzige Unterschied ist, dass die Basis nicht mehr chemisch, sondern physikalisch ist.

    Wir haben eines Ihrer dicken Bücher mitgebracht: „Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters“. Es heißt, dass Sie sich an jedes einzelne Ihrer Fotos erinnern.

    Oh ja, absolut. Ich könnte über jedes Bild Vorträge halten.

    Beweisen Sie es.

    Mal sehen. Oh ja, hier (Bild oben rechts). Die Goldmine in Serra Pelada….

    …das sind Ihre berühmtesten Bilder.

    Dahinter steckt eine lange Geschichte. Es begann, als ich zum ersten Mal wieder in Brasilien war. Meine Frau Lélia und ich hatten das Land 1969 verlassen müssen. Wir waren in der linken Bewegung und hatten gegen die Diktatur gekämpft.

    Sie kannten sogar den Studentenführer Carlos Marighella, der das „Minihandbuch des Stadtguerilleros“ geschrieben hat, das später von IRA und RAF benutzt wurde.

    Wir waren mit Bekannten von ihm befreundet. Einige wurden festgenommen und gefoltert. Wir mussten also weg und gingen nach Paris. Erst 1980 konnten wir zurück. Da wurde Gold in der Serra Pelada im Nordosten des Landes gefunden, und innerhalb einer Woche gruben dort 50 000 Menschen. Aber die Bundespolizei kontrollierte die Goldmine, und ich bekam keine Erlaubnis, sie zu fotografieren. Die Fotografen von „Stern“, „Geo“ und „Time“ durften, ich war das schwarze Schaf, mein Gesuch wurde jahrelang abgelehnt. Nach dem Ende der Diktatur 1985 übernahm die Gewerkschaft die Kontrolle, und ich bin einfach hingefahren.

    War da nicht schon längst alles gelaufen?

    Nein, es gab eine Menge Gold: Man hatte schon fünf bis sechs Tonnen herausgeholt. Ich war einen Monat in der Mine, immer mit den Arbeitern. Ich sah genauso verdreckt aus wie sie, voller Staub, Schweiß und Schlamm. Die Mine hatte 1000 Eigentümer, jeder hatte eine winzige Parzelle. Auf jeder dieser Parzellen arbeiteten 20 bis 25 Männer. Einige zum Graben, andere zum Transportieren der Erde. Wenn es nun Anzeichen für Gold gab, etwa wenn die Farbe der Erde sich änderte, mussten sich die Transporteure blaue T-Shirts anziehen, und es wurden weiße Säcke verwendet, damit man den Weg des Sacks durch die Mine beobachten konnte.

    Die Bilder aus der Goldmine haben Ihnen den Ruf eingebracht, ein Fotograf zu sein, der soziale Missstände anklagt.

    Überhaupt nicht. Ich zeige einfach Arbeitsbedingungen. Keiner der Männer in dieser Mine wurde gezwungen, dort zu arbeiten. Sie zockten wie im Casino. In jedem Sack könnte ein Kilo Gold sein.

    Für Ihr Projekt „Genesis“ waren Sie in der Antarktis und haben tagelang Pinguinkolonien fotografiert. Was ist für Sie der Unterschied zwischen der Goldmine und einer Pinguinkolonie?

    Mit Pinguinen spreche ich nicht, esse ich nicht und schlafe ich nicht. Aber ich habe trotzdem viele Ähnlichkeiten entdeckt. Pinguine bauen ihre Nester wie es Menschen machen würden, geschützt vor dem Wind und den Attacken anderer Tiere. Ich habe beobachtet, wie eine Pinguinmutter mit ihrem Jungen schimpft, sie hat ihren Kopf zu ihm heruntergebeugt und gemeckert, weil das Kleine beinahe von einem Vogel gefressen worden wäre. Wenn die Kleinen größer sind, gehen beide Eltern fischen und die Kinder kommen in eine Art Kindergarten, wo zwei Pinguine auf sie aufpassen. Ich habe einen Monat mit den Tieren verbracht und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut.

    Sie fotografieren Pinguine wie Menschen?

    Wissen Sie, wir haben keine Beziehung mehr zur Natur. Wir umgeben uns mit Beton und Zement und haben uns von unserem Planeten ausgeschlossen. Wenn Sie die Möglichkeit haben, ihn wiederzuentdecken, dann werden Sie die Tiere nicht wie Fremde betrachten, sondern wie Zeitgenossen. Ratten sind zu 95 Prozent so gemacht wie wir. Wenn Sie das begreifen, machen Sie bessere Bilder von ihnen.

    – Interview mit Deike Diening.