Brasiliens steiler Abstieg

Brasiliens steiler Abstieg

Sie ahnten nicht, was sie auslösen würden, die jungen brasilianischen Staatsanwälte, die 2014 begannen, ein Netz aus Schmiergeldzahlungen zu untersuchen. „Autowaschanlage“ nannten sie ihre Ermittlungen – auf Portugiesisch Lava Jato –, weil die Geldübergaben oft in diesen stattfanden. Am Anfang schien es nicht mehr als eine Routineoperation zu werden.

Foto: Fabio Rodrigues Pozzebom / Agência Brasil www.agenciabrasil.ebc.com.br/politica/foto/2016-08/michel-temer-recebe-cumprimentos-apos-posse, CC BY 3.0 br, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51016058

Doch dann drangen die Ermittler immer tiefer vor in ein Geflecht aus Schmiergeldzahlungen und Abhängigkeiten zwischen der Politik und den größten Unternehmen des Landes. Mindestens fünf Milliarden Dollar, so wissen sie heute, wechselten illegal ihre Besitzer. Der Skandal, der wegen der zentralen Funktion des Ölkonzerns auch als Petrobras-Skandal bezeichnet wird, ist damit die größte Korruptionsaffäre der Welt.

Den Brasilianern hat Lava Jato schmerzhaft verdeutlicht, wie sehr sich ihre politische Klasse in einer Kultur der Selbstbereicherung und Lüge eingerichtet hat. Diese ist so umfassend und gilt den Beteiligten als so normal, dass Eingeständnisse von Schuld oder Rücktritte hierzulande so selten sind wie Schnee auf dem Zuckerhut. Selbst nach der Veröffentlichung kompromittierenden Materials besitzt der Homo Politicus Brasiliensis noch die Fähigkeit, sich vor die Kameras zu stellen und von Verleumdung zu fabulieren.

Das jüngste Beispiel ist Präsident Michel Temer. Als er sich Ende August die Präsidentenschärpe nach dem Sturz von Dilma Rousseff überstreifte, machte er ein einziges Versprechen: Er werde die einst fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt aus der Wirtschaftskrise führen, an der seine Vorgängerin schuld sei. Nun hat Temer das Land in eine Staatskrise gestürzt.

Auslöser sind Tonaufnahmen, in denen der Präsident verschiedene Gesetzesbrüche gutheißt. Seit ihrer Veröffentlichung gilt er nur noch als Präsident auf Abruf. In drei Fällen ermittelt Brasiliens Bundesanwaltschaft gegen ihn: passive Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Selbst der mächtige Medienkonzern Globo, der Temer mit ins Amt hievte, hat sich von ihm abgewandt.

Dass Temer nicht schon längst zurückgetreten ist, gehört zur hiesigen Politkultur, siehe oben. Er mag sich zudem geschützt fühlen, weil ein Impeachmentverfahren monatelang dauern würden.

Im Grunde war der neuerliche Skandal vorprogrammiert. Die Regierung Temer hatte einen schweren Geburtsfehler. Es ging ihr nie darum, das vielleicht drängendste Probleme dieses Riesenlandes anzugehen: die epidemische Korruption, die von den Lava-Jato-Ermittlern offenbart wurde. Vielmehr taten Temer und seine Verbündeten alles, um die Untersuchungen zu behindern, die ihnen immer näher rückten. Offenbar hatte Temer darauf spekuliert, er könne nach der Absetzung Rousseffs business as usual betreiben. Zu diesem Zweck hatten er und seine Leute sie schließlich gestürzt. Diese Lesart des Impeachments setzt sich immer stärker durch.

Denn Rousseff hatte den Lava-Jato-Ermittlern stets freie Hand gelassen – zum Entsetzen der alten Nomenklatura. Denn die jungen Staatsanwälte begannen plötzlich Politiker ins Visier zu nehmen, die sich für unantastbar hielten. Herren wie Michel Temer, die es jahrzehntelang gewohnt waren, in Brasilien die Strippen ziehen. Deswegen – und nicht wegen ihrer vermeintlichen Haushaltstricks – wurde entschieden, dass Rousseff weg muss. Ein Kazike aus Temers Partei PMDB bezeichnete sie in einem später bekannt gewordenen Gespräch als „Kuh, die man den Piranhas zum Fraß” vorwerfen müsse. „Wir müssen diesen Mist stoppen“, sagt er in Bezug auf die Lava Jato-Ermittlungen.

Es spricht ebenso für sich, dass der Impeachmentprozess gegen Rousseff von einem der korruptesten Politiker des Landes initiiert wurde: Eduardo Cunha, Ex-Parlamentspräsident, Parteifreund Temers und heute Bewohner einer Gefängniszelle.

Allerdings hatte Rousseff den Lava Jato-Ermittlern schon zuvor ihre vielleicht wirksamste Waffe geliefert: den großzügigen Gebrauch einer Kronzeugenregelung. Sie sicherte Verdächtigen Straferleichterungen im Austausch für umfassende Geständnisse zu. Festgenommene Konzernchefs und hochrangige Politiker, die ein Leben in Luxus gewohnt waren, wurden nun von den Ermittlern so lange in kargen Zellen gehalten, bis sie auspackten. Dass jetzt Michel Temer über eine Kronzeugenaussage stürzen könnte, kann man als Rousseffs verspätete Rache betrachten.

Temer tappte Anfang März in die Falle von Joesley Batista, dem größten Fleischfabrikanten der Welt. Joesley und sein Bruder Wesley Batista wurden wegen verschiedener Korruptionsaffären ihres Unternehmens JBS untersucht. Um sich Haftverschonung zu erkaufen, machten sie einen Deal mit der Staatsanwaltschaft und versprachen, einen großen Fisch an die Angel der Ermittler zu liefern.

Kurz darauf tauchte Joesley Batista in der Residenz von Präsident Temer auf. Dieser empfing ihn nicht ahnend, dass der 44-jährige Batista in seinem Jackett ein Aufnahmegerät versteckt hatte. Batista erzählte dem Präsidenten nun von allerlei Schweinereien, etwa, dass man zwei Richter schmiere, worauf Temer sagt: „Sehr gut, sehr gut.“ Batista bemerket weiterhin, dass man Eduardo Cunha, dem inhaftierten Ex-Vorsitzenden des Parlaments ein Schweigegeld zahle, was Temer ebenfalls wohlwollend kommentiert.

Mit dieser Aufnahme marschierten die Batista-Brüder zur Staatsanwaltschaft. Als der Mitschnitt Mitte Mai öffentlich wurde, stoppte in Brasília der Politikbetrieb. Der Handel an der Börse in São Paulo wurde wegen dramatischer Kurseinbrüche ausgesetzt, die brasilianische Währung Real gab nach.

In den Tagen danach erschütterten Massenproteste die Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo. In der Hauptstadt Brasília wurden bei einer Demonstration mehrere Ministerien in Brand gesteckt. Die Polizei eskalierte den Konflikt, indem sie mit Pferden in die Menge sprengte, Tränengasbomben aus Hubschraubern abgewarf und sogar scharf schoss. Angesichts der Szenen schickte Präsident Temer die Armee auf die Straße, was wiederum Erinnerungen an die Militärdiktatur (1964-1985) wachrief – und als Zeichen seiner Schwäche gedeutet wurde.

Nun liegt Temers Zustimmungsrate bei fünf Prozent und ein Land fragt sich, wie es weitergehen soll. Temer hält an der Behauptung fest, es handle sich um ein Komplott gegen ihn. Widersprüche fechten den 76-jährigen nicht an, der wegen seines gotischen Looks auch als Vampir bezeichnet wird. Er ist ein Veteran im Macht- und Lügenspiel der Hauptstadt.

Es ist kein harmloses Spiel. Im Januar kam der Richter Teori Zavascki bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz um Leben. Zavascki war am Obersten Gerichtshof für die Zulassung der Anklagen gegen Politiker im Lava Jato-Prozess zuständig. Er galt als unbestechlich. Das ärgerte Temers Leute, wie abgehörte Telefonate beweisen. Nach Zavasckis Tod ersetzte Temer ihn mit einem Gefolgsmann. Schon damals sprachen viele von einer Verschwörung von Temers Leuten. Sie fühlten sich bestätigt, als vor wenigen Tagen ein Beamter erschossen wurde, der die Ursachen des Absturzes untersuchte.

Gründe, die Wahrheit zu fürchten, haben viele. Allein auf der Schmiergeldliste des Fleischkonzerns JBS tauchen 1829 Politiker auf. Sie gehören insgesamt 28 Parteien an, manche sind Lokalpolitiker, andere bekleiden höchste Regierungsämter. „Wir wollten uns eine Reserve von Entscheidungsträgern halten“, sagte ein JBS-Manager. Im Wahlkampf 2014 ließ JBS umgerechnet 100 Millionen Euro in die Taschen von Politikern fließen, das Unternehmen schmierte ein Drittel des aktuellen brasilianischen Kongresses. Zudem stehen zwölf amtierende Gouverneure sowie acht aktuelle Minister von Präsident Temer unter Korruptionsverdacht. Keiner von ihnen denkt an Rücktritt, alle weisen jegliche Schuld von sich.

In Umfragen wollen nun 90 Prozent der Brasilianer Neuwahlen. Doch dafür bedürfte es einer Verfassungsänderung. Diese aber will Brasiliens konservativer Kongress nicht. Bei einer möglichen Absetzung – mehrere Anträge wurden bereits eingebracht – würde Temer von Parlamentspräsident Rodgrigo Maia ersetzt. Auch dieser steht unter Korruptionsverdacht.

Es gehört zum brasilianischen Drama, dass es weit und breit keine politische Persönlichkeit gibt, die Hoffnung macht. Junge, idealistische und integre Menschen wurden jahrelang vom Gang in die Politik abgeschreckt, die für viele Politiker nicht viel mehr als ein lukratives Business ist.

Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 sehen derzeit Ex-Präsident Lula da Silva vorne. Der 71-Jährige verkörpert die vergangene Dekade, als Brasiliens Wirtschaft boomte und Millionen von Menschen dank staatlicher Programme Aufstiegs- und Bildungschancen hatten. Doch Lula wäre ein Vorwärts in die Vergangenheit. Schon an zweiter Stelle folgt ihm Jair Bolsonaro, ein Rechtsradikaler, der Folter, Vergewaltigung und außergerichtliche Exekutionen verteidigt.

Obwohl Bolsonaro seit 25 Jahren im Parlament sitzt (und nur einen einzigen Gesetzesvorschlag gemacht hat), gelingt es ihm, sich als Anti-Establishment-Kandidat zu präsentieren. Die Krise, die auch eine moralische ist, treibt viele Brasilianer in die Arme eines autoritären Scharlatans. Bolsonaros Wahlprogramm beschränkt sich auf einen Punkt: die Korruption beenden und den Schweinestall ausmisten. Diesen Wunsch kann man sogar nachvollziehen.