Brasilien: Angriff auf Ureinwohner

Brasilien: Angriff auf Ureinwohner

500 Jahre Amerika schmolzen in diesen Szenen zusammen. Die Jahrhunderte auf wenige Bilder reduziert, die anachronistisch schienen, aber von größerer Aktualität nicht sein könnten.

Mehrere Tausend halbnackte Ureinwohner waren aus ganz Brasilien in die Hauptstadt gekommen, sie trugen Federn und Kriegsbemalung und attackierten mit Pfeilen, Speeren und lautem Geheul den brasilianischen Kongress, ein massiver Betonbau. Militärpolizisten in schwarzgrauer Kampfmontur traten ihnen entgegen, feuerten Tränengasgranaten, Gummigeschosse und sogenannte „Bomben mit erzieherischem Effekt“, die mit ohrenbetäubendem Lärm explodieren. Dennoch gelang es den Ureinwohnern, Parlament und Senat zu stürmen, in denen nun Angestellte und Funktionsträger in dunklen Anzügen hektisch durcheinander liefen. Am Ende wurden vier Indigene festgenommen und eine Indigene verletzt.

Es war nicht das erste Mal, dass Brasília zum Schauplatz einer solch epischen Auseinandersetzung wurde. Auf Fotos sieht es dann immer so aus, als ob die Ureinwohner der brasilianischen Regierung den Krieg erklärt hätten. In Wirklichkeit ist es andersherum. Es handelt sich um Selbstverteidigung. Die brasilianische Regierung führt seit Jahren einen Feldzug gegen die Ureinwohner des Landes und ihren Lebensraum. Das war schon unter der linken Technokratin Dilma Rousseff so, die sich in ihrer Amtszeit ein einziges Mal mit Indio-Vertretern traf. Sie und ihr Vorgänger Lula da Silva waren es, die den umstrittenen Bau des Staudamms von Belo Monte durchsetzten, der nun große Urwaldgebiete überflutet und den Xingu-Fluss enorm beeinträchtigt, Lebensraum verschiedener indigener Völker.

Die konservative Regierung von Präsident Michel Temer hat den Angriff auf die Indios aber nun noch einmal radikalisiert und brutalisiert.

Für Temer, das hat er immer wieder deutlich gemacht, hat das Wirtschaftswachstum oberste Priorität, koste es, was es wolle. Zu diesem Zweck will er den Schutz für Indio-Reservate aufweichen. Deren Flächen werden von Großbauern, Minenkonzernen und Holzunternehmen begehrt. Zwar sind die Reservate auf dem Papier streng geschützt. Aber in der Realität werden ihre Grenzen regelmäßig verletzt, weil in den abgelegenen Gebieten des Riesenlandes Brasilien ganz eigene Gesetze herrschen. Holzfäller, Goldsucher und Jäger dringen ungestraft in die Reservate ein; Großbauern schicken ihre Pistoleros gegen die Indios los. Sie werden von Lokalpolitikern und der Polizei unterstützt und gedeckt.

Die Realität ist also: Gesetzlosigkeit, Mord und Totschlag. Im Jahr 2015 wurden in Brasilien nach Zählung des Indigenen Missionsrats der katholischen Kirche (Cimi) fast 140 Ureinwohner umgebracht. Es ist ein Anstieg um 130 Prozent im Vergleich zu 2013. Die Zahlen weisen auf eine Verschärfung der Landkonflikte hin.

Ein Beispiel für solch eine Auseinandersetzung war der Angriff auf Indios vom Stamm der Gamela im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão. Sie besetzten zum 1. Mai eine Rinderfarm, deren Land sie für sich beanspruchen. Dann kamen betrunkene Männer und eröffneten das Feuer, verletzten fünf Indios schwer, darunter auch ihren Anführer. Acht weitere Indios wurden mit Macheten zugerichtet, so teilte es die katholische Pastoralkommission der Erde mit. Einer der Indios könnte beide Hände verlieren.

Wie die brasilianische Politik mit solchen Ereignissen umgeht, zeigte die Reaktion des Abgeordneten Aluísio Guimarães Mendes, der Maranhão im Parlament vertritt. Er beschimpfte die Gamela als „Aufrührer“. Andere Politiker in Brasilía – häufig selbst Großgrundbesitzer – brüllen in Debatten schon mal: „Indigene auf meinem Land? Nur über meine Leiche!“ Der Abgeordnete Jair Bolsonaro, bekannt für rassistische, homophobe und sexistische Sprüche, bezeichnet die Ureinwohner als stinkende Arme in Freiluftzoos, die das Land Millionen kosteten. Bolsonaro will 2018 zur Präsidentschaftswahl antreten, in Umfragen liegt er an zweiter Stelle. Und die Justiz? Der Richter Gilmar Mendes vom Obersten Gerichtshof Brasiliens ironisierte einmal: „Sollen wir den Indios auch noch die Copacabana zurückgeben?“

In solch einem Klima fordern die Indigenen nun nicht mehr oder weniger als den Schutz ihrer garantierten Territorien sowie die Stärkung der Nationalen Indio Stiftung Funai. Die Funai ist zuständig für die Verwaltung der Reservate. Und obwohl sie in der Geschichte schon oft das Instrument korrupter Chefs war (etwa von Romero Jucá, aktuell Parteivorsitzender von Präsident Michel Temers PMDB), ist sie die einzige Institution geblieben, die die Interessen der Indios in Brasília vertritt.

Genau sie will Temer nun schwächen. Von innen heraus. Zunächst wollte er einen Armeegeneral zum neuen Funai-Chef machen, der die Militärdiktatur verteidigt hatte, während der Hunderte Indios umgebracht wurden. Dann wurden zwei evangelikale Pastoren vorgeschlagen. Schließlich bekam der Pastor Antônio Fernandes Toninho Costa Anfang des Jahres den Job, wurde jedoch schon vier Monate später wieder entlassen. Offenbar erfüllte er die Erwartungen nicht. Bei seinem Abgang sagte Toninho Costa, er müsse aufgrund des Drucks von Kongressmitgliedern gehen, die mit der Agrarindustrie verbandelt seien. Aber er verbiege sich nicht und mache keine schlechte Politik. „Diese Regierung interessieren die Anliegen der Indigenen nicht.“

Bis vor wenigen Tagen lag die Ernennung des neuen Funai-Vorsitzenden noch bei Justizminister Osmar Serraglio. Der war ein Mann der Agrarindustrie, die aggressiv auf eine Öffnung der Schutzgebiete drängt. Serraglio traf sich kein einziges Mal mit Vertretern der Indios, aber Lobbyisten der Agrarwirtschaft gingen bei ihm ein und aus. So verwunderte sein Beitrag zur Diskussion um die Reservate wenig: „Land allein füllt keine Mägen.“ Es war die alte Behauptung, dass die faulen Indios auf ihren Flächen nichts produzierten.

Nun hat Präsident Temer Serraglio durch den parteilosen Torquato Jardim im Amt des Justizministers ersetzt. Dieser ist ein unbeschriebenes Blatt, wenn es um Fragen der Indigenen-Politik geht. Es ist zu befürchten, dass er inkompetent ist, um über ein so wichtiges Organ wie die Funai zu entscheiden; und dass er sich der derzeit in Brasília vorherrschenden Argumentationskette anschießen wird. Diese geht so: Mit rund 900.000 Menschen machen die Indigenen nur 0,4 Prozent der brasilianischen Bevölkerung aus. Aber ihre Reservate nehmen 12,5 Prozent der Landesfläche ein, den Großteil davon in der Amazonasregion. Dies sind vergeudete Territorien, weil dort nichts produziert wird.

Die Idee, dass der Amazonaswald, den die Indios wie sonst niemand bewahren, einen unschätzbaren Reichtum an sich darstellt, will nicht in die Köpfe der allermeisten brasilianischen Politiker. Sie denken in dem alten Paradigma, dass Umweltschutz nur das Wirtschaftswachstum behindere. Natürlich stecken auch handfeste Interessen hinter der Argumentation. Die Agrarindustrie ist einer der größten legalen und illegalen Finanziers der Wahlkampagnen brasilianischer Politiker. Ein Drittel des aktuellen Kongresses steht etwa auf den Schmiergeldliste des Fleischkonzern JBS, dem größten Fleischproduzenten der Welt. Natürlich liegt es im Interesse von JBS, dass die ohnehin schon gigantischen Soja-Monokulturen ausgeweitet (Soja wird in erster Linie an Masttiere verfüttert) und neue Flächen für die Rinderzucht geschaffen werden.

Die Funai ist tot, kommentieren nun Indio-Führer die Situation der Behörde. Rund 400 Stellen innerhalb der Funai hat die Regierung abgeschafft. Darunter auch die Posten für den Schutz sogenannter unkontaktierter Völker. Das sind isolierte Stammesverbände im Amazonaswald, die bisher so gut wie keinen Kontakt mit der Außenwelt hatten. Diesen Gruppen droht die Auslöschung, weil Holzfäller, Minenkonzerne, Erdölfirmen, Jäger und Goldsucher in ihre Territorien eindringen, Krankheiten einschleppen und Jagd auf sie machen.

Die Repräsentanten der rund 100 Stämme, die vor einigen Wochen in Brasilia zum Protest zusammenkamen, überreichten der Regierung ein Dokument, das sich dramatisch liest: „Wir klagen den schwersten Angriff auf die Rechte der indigenen Völker seit der Verfassung von 1988 an“, heißt es darin. „Er wird orchestriert von den drei Gewalten der Republik in Verbindung mit nationalen und internationalen Wirtschaftsoligarchien, die unsere angestammten Territorien besetzen und ausbeuten wollen und dabei die Natur zerstören, die essenziell ist für das Leben und Wohlergehen der Menschheit und in der unser kulturelles Erbe liegt, das wir seit tausenden Jahren bewahren.“

Eine Einladung zu Kaffeetrinken und Fototermin von Justizminister Serraglio lehnten die Indios ab. „Es würde all das legitimieren, was diese Regierung gegen uns tut“, sagte Kretã Kaingang von der Ethnie der Kaingang aus dem südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. „Die Kriminalisierung unserer Führer und den Genozid an unseren Völkern.“

Für seine feindliche Politik gegenüber den Indigenen und der Umwelt besitzt Brasiliens Präsident Temer kein demokratisches Mandat. Er ist über die dubiose Absetzung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff an die Macht gelangt und steht nun ebenso wie acht seiner Minister unter Korruptionsverdacht.

Zu diesen zählt auch Brasiliens Landwirtschaftsminister Blairo Maggi Er ist der größte Sojabauer der Welt, hat ein Vermögen von fast einer Milliarde Dollar und sitzt an einer weiteren Schlüsselstelle, wenn es um die Zukunft der Ureinwohner geht. Träger der Goldenen Kettensäge 2005, einem Anti-Preis, den Greenpeace an die größten Waldvernichter vergibt, hält er die Debatte für „ideologisiert“. Er macht einen Vorschlag, der zunächst vernünftig klingt. Denn wenn immer der Staat in Brasilien ein neues Indio-Reservat ausweist, werden die vermeintlichen Besitzer nicht dafür entschädigt, weil der Staat davon ausgeht, dass das Land ihm gehöre. Maggi möchte nun Entschädigungszahlungen einführen, um Druck aus der Debatte zu nehmen. In der Praxis aber hieße es die illegale Landnahme durch Großgrundbesitzer und Landtitelfälschung mit Millionen Reais an Steuergeldern zu belohnen. Männer wie Maggi selbst würden enorm profitieren.

Ein anderer Vorschlag, der derzeit diskutiert wird, ist der Verfassungszusatz PEC 215. Mit ihm soll die Verantwortung für die Indio-Reservate von der Funai auf den Kongress übertragen werden. Brasiliens Ureinwohner wären auf Gedeih und Verderb den Interessen der Parlamentarier ausgeliefert. Diese stehen zurzeit mehrheitlich der Agrarindustrie, evangelikalen Kirchen und Minenkonzernen nahe, die ihre Wahlkämpfe mitfinanzieren. Vergangenes Jahr wurde PEC 215 bereits von einer Parlamentskommission gebilligt. Käme der Verfassungszusatz durch, „wäre dies eine Verletzung unserer Rechte“, sagte der bekannte Indio-Führer Raoni Metuktire Kayapó. Er war offenbar bemüht, gemäßigte Worte zu finden.

Tatsächlich wäre PEC 215 das Ende der Funai. Es würde Brasiliens Ureinwohner den Angriffen von Holzfällern, Großbauern und Minenkonzernen ungeschützt aussetzen. Und es würde die Zerstörung des Amazonaswaldes noch weiter beschleunigen. Diese Gefahr sollte auch im Ausland für den Abschuss zumindest verbaler Pfeile gen Brasília sorgen.