Die Solidarität nach dem Beben

Die Solidarität nach dem Beben

Für viele Mexikaner scheint Twitter die letzte Hoffnung zu sein. Über den Nachrichtendienst verbreiten sie Fotos und Namen vermisster Angehöriger. „Freunde, helft! Eine Kusine ist verschwunden. Wir wissen nicht ob sie in einem Gebäude war, das zusammenbrach. Aber sie hatte dort ein Vorstellungsgespräch.“

Foto: Image © (Procura por sobreviventes no México / Reprodução / via Folha PE)

So lautet eins von zahlreichen Hilfegesuchen nach dem schweren Erdbeben, das Mexiko-Stadt am Dienstagmittag (Ortszeit) mit einer Stärke von 7,1 erschütterte.

Unterdessen versuchen die mexikanischen Behörden die Schäden zu bemessen. Dabei steigt zwangsläufig die Zahl der Toten, weil bei den Aufräumarbeiten immer mehr Leichen gefunden werden. Am Mittwochnachmittag lag ihre Zahl laut Innenministerium bei 226. Rund 700 Menschen wurden verletzt, viele davon schwer, weil sie von Trümmerteilen getroffen wurden. Diese Zahlen korrigierten die Behörden jedoch fast stündlich.

Mehr als die Hälfte der Toten ist in Mexiko-Stadt zu beklagen, ebenfalls viele Opfer gab es in den südlicheren Bundesstaaten Morelos und Puebla. In Puebla, 160 Kilometer von Mexikos Hauptstadt entfernt, lag auch das Epizentrum des Bebens. Die gleichnamige Stadt ist für ihre große VW-Fabrik bekannt. Dort gab es nach Angaben des deutschen Autokonzerns keine Opfer, die Produktion sei bereits am Mittwoch wiederaufgenommen worden, so VW.

Andernorts ist man von einer Rückkehr zur Normalität weit entfernt. In einer ersten Reaktion bat Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto die Bevölkerung, am Mittwoch nicht zur Arbeit zu gehen, um die Straßen freizuhalten.

Wie viele Mexikaner zeigte sich der umstrittene Peña Nieto berührt vom Einsturz einer Grundschule. Die Escuela Rebsamen in Mexiko-Stadt begrub mindestens 32 Kinder und fünf Lehrer unter sich. Nach dem Beben drangen Hilferufe aus den Trümmern und verzweifelte Eltern und Anwohner halfen aufopferungsvoll den Rettungskräften, die um Benzin für Generatoren, Wasser, Betonschneider und Medikamente baten.

Neben der Schule stürzten mindestens 43 weitere Gebäude in Mexiko-Stadt ein. Darunter: komplette Bürogebäude in den zentralen Stadtvierteln Roma und Condesa sowie eine Textilfabrik, in der jedoch wie durch ein Wunder 14 Näherinnen überlebten. Vor den kollabierten Gebäuden wurden handgeschriebene Listen mit den Namen der Geretteten ausgehängt – und auch mit denen identifizierter Opfer.

Auf Videos, die nun in den sozialen Netzwerken geteilt werden, sind die Szenen des Bebens zu sehen: schwankende Hochhäuser im Businesszentrum, zusammenstürzende Betonbauten, eine große Explosion, die durch austretendes Gas ausgelöst wurde, eingeknickte Brücken und aufgerissene Straßen. Auch den internationalen Flughafen von Mexiko-Stadt beschädigte das Beben, der Betrieb wurde ausgesetzt.

Völlig überraschend kam die Katastrophe jedoch nicht. Auf den Tag genau vor 32 Jahren, am 19. September 1985, zerstörte ein Beben mit der Stärke 8,0 große Teil Mexiko-Stadts, rund 10.000 Menschen starben. Spätestens seit dem weiß man um die Gefahr für die Metropole, in deren Großraum 20 Millionen Menschen leben. Und so entbehrt es nicht einer tragischen Ironie, dass zwei Stunden vor der Erschütterung am Dienstag eine Zivilübung stattfand, mit der die Bevölkerung auf ein Beben vorbereitet werden sollte.

Ausgelöst werden die seismischen Schocks in Mexiko durch eine tektonische Besonderheit: Ein Großteil des Landes liegt auf der nordamerikanischen Erdplatte, die sich westwärts bewegt. Aus der Gegenrichtung schiebt sich die Cocos-Platte darunter, die nordostwärts driftet. So kommt es zu heftigen Zusammenstößen. Schon vor zehn Tagen war ein schweres Erdbeben (8,2 auf der Richterskala) registriert worden. Dessen Epizentrum lag jedoch im Pazifik, und die Schäden hielten sich in Grenzen.

Vielleicht ist mit dieser mentalen Gewöhnung die enorme Solidarität zu erklären, welche viele Mexikaner nun zeigen. Tausende fanden sich schon kurz nach dem Beben an den Unglücksorten ein, um Trümmer zu beseitigen, Blut zu spenden, Medikamente und Wasser zu bringen oder einfach nur, um ihr Telefon zur Verfügung zu stellen. Kliniken öffneten ihre Türen unbürokratisch, ebenso boten Psychologen ihre Hilfe an. Übersetzer stellten sich Touristen zur Verfügung, Taxifahrer machten Gratisfahrten. Während der chaotisch erscheinenden Aufräumarbeiten wurde immer wieder um Ruhe gebeten, um Hilfeschreie zu orten. Eine Frau twitterte, sie habe einen desorientierten Fünfjährigen aufgelesen. Seine Eltern sollten sich melden. „Zwei Hände helfen mehr als 1000 Gebete“, twitterte ein Mann.

Die Zeitschrift „Proceso“ schrieb, dass die Katastrophe das Gute in den Menschen zum Vorschein bringe – und die Versäumnisse der Behörden. Denn warum so viele Gebäude trotz schwerer Auflagen einstürzten, wird zu untersuchen sein. Vorerst aber befindet sich Mexiko-Stadt noch im Ausnahmezustand.