Die venezolanische Tragödie

Die venezolanische Tragödie

Es ist eine Binse, dass Konflikte zur Beilegung nicht zwingend einen Konsens brauchen, aber einen Dialog. In diesem Sinne ist es unwahrscheinlich, dass die politische Konfrontation, die Venezuela erschüttert, bald zu einem Ende kommen wird.

Die Regierung von Präsident Nícolas Maduro hat deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an Gesprächen mit der Opposition hat. Es scheint ihr im Gegenteil um eine Eskalation zu gehen. Wie alle autoritären Regime braucht sie Feindbilder, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Praktische Errungenschaften hat sie keine mehr vorzuweisen.

Auch deshalb sieht es nun immer mehr so aus, als ob Maduro, der 2013 hauchdünn gewählt wurde, nach einem Vorwand sucht, um sich die Macht langfristig zu sichern, sprich eine Diktatur zu errichten.
In diese Richtung deutete bereits die Wahl zu einer Verfassungsgebenden Versammlung am vergangenen Sonntag. Da klar war, dass die Abstimmung nur dazu dienen sollte, das Parlament zu entmachten, in dem die Opposition gegen Maduro seit 2015 die Mehrheit hat, wurde sie von großen Teilen der Bevölkerung boykottiert. Dennoch hätten laut Regierung acht Millionen der 19 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Eine Zahl, die von der Opposition als lächerlich bezeichnet wurde – der Konflikt in Venezuela ist auch einer der Behauptungen.

Drei Tage nach dem Votum dann das: Das Unternehmen, das die Wahlmaschinen bereitstellte, gab bekannt, dass mindestens eine Million Stimmen illegal hinzugefügt worden seien. Aber Maduro, dessen Sohn und Frau in die Verfassungsversammlung gewählt wurden (Nepotismus herrscht nicht nur bei den Trumps), zeigte sich unbeeindruckt. Er beschuldigte die Firma, von den „Gringos“ unter Druck gesetzt worden zu sein.

Mit der gleichen wegwischenden Art tut Maduro auch die US-Sanktionen gegen Regierungsfunktionäre ab oder die zunehmende Kritik aus Europa. Allerdings treten unter Stress die diktatorischen Tendenzen seines Regimes deutlicher zutage. Kurz nach der Wahl wurden Angestellte aus Staatsbetrieben identifiziert, die sich nicht am Verfassungsvotum beteiligt hatten. Am Freitag dann besetzten Chavisten das Parlamentsgebäude, in dem die 545 Mitglieder der chavistischen Verfassungsversammlung tagen sollen. Das Parlament, seit 2015 ein Ärgernis für Maduro, ist damit praktisch abgeschafft.

Wegen seines radikalen Kurses („Was wir nicht per Wahl erreichen, schaffen wir mit Waffen“) ist Maduro nun auch in Lateinamerika isoliert. Lediglich Kuba, El Salvador, Nikaragua, Ecuador und Bolivien halten zu ihm. Vordergründig. So weiß man, das Boliviens Präsident Evo Morales über Maduro lästert, sobald die Mikros abgeschaltet sind. Bolivien hat sich unter dem Morales zu einem linken Vorzeigeprojekt entwickelt. Das Land verzeichnet die höchsten Wachstumsraten der Region – ohne dabei den sozialen Ausgleich zu vergessen.

Von solch einer Entwicklung ist Venezuela weit entfernt. War Hugo Chávez 1999 angetreten, das Ölland gerechter zu machen, so endet der Chavismus nach unleugbaren Erfolgen (Armut und Analphabetismus sanken deutlich) in einem Fiasko. Aus fünf Gründen: 1. Die Regierung kümmerte sich vor allem darum, die Petrodollars auszugeben, die hereinsprudelten, solange der Ölpreis hoch war. Seit 2013 hat sich der Ölpreis aber mehr als halbiert. 2. Der Staat verschuldete sich international enorm. 3. Die Wirtschaft wurde aufs Öl ausgerichtet, so dass Venezuela daneben nichts Nennenswertes mehr produziert.

Gebrauchsgüter müssen importiert werden, von der Aspirin bis zur Zahnbürste. 4. Man versäumte es, in die Ölförderanlagen zu investieren. 5. Und ignorierte die ausufernde Korruption.

All dies hat zu surrealen Zuständen geführt. Seit 2013 ist die Wirtschaft Venezuelas um 35 Prozent geschrumpft, wie Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann errechnet hat. Da die Regierung keine Statistiken mehr veröffentlicht, ist man auf Daten von Außerhalb angewiesen. Der Internationale Währungsfond (IWF) schätzt, dass die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt, die Inflation taxiert er für 2017 auf 720 Prozent. Darunter leiden vor allem die Armen. Ein Gutachten über die Lebensbedingungen in Venezuela (Encovi) konstatiert, dass zwei Drittel der Venezolaner durchschnittlich neun Kilo an Gewicht verloren hat. Und: Caracas gilt als gefährlichste Stadt der Welt. Die Mordrate liegt nach Schätzungen bei 120 Morden pro 100000 Menschen (zum Vergleich Deutschland: 0,8.).

Dies ist der Rahmen, in dem im März die Massenproteste gegen Maduro ausbrachen. Unmittelbarer Auslöser war die Suspendierung des Parlaments durch den obersten Gerichtshof. Seitdem erschüttern wöchentliche Demonstrationen das Land, mehr als hundert Menschen wurden getötet. Die Polizei und paramilitärische Einheiten gehen extrem brutal vor. Gruppen militanter Demonstranten antworten mit gleicher Münze.

Es gehört zur venezolanischen Tragödie, dass auch die Opposition, die sich in dem Bündnis MUD zusammengeschlossen hat, kein Hoffnungsträger ist. Ihre Führer gehören der alten Elite an, die das Land bis 1999 ausplünderte. Andere waren am Putschversuch gegen Chávez 2002 beteiligt oder schwiegen 1989, als die Armee Hunderte Menschen tötete, die gegen neoliberale Reformen protestierten. Die Schwäche der Opposition wird durch ihre Zerstrittenheit verstärkt. Einig ist sie sich nur in ihrer Forderung nach Neuwahlen.

Doch diese wird es mit Maduro nicht geben. Weil das Militär ihm bisher den Rücken stärkt, ist abzusehen, dass sich die Situation in Venezuela eher noch radikalisieren wird. Ebenso wird die Zahl der Menschen, die Zuflucht in den Nachbarländern Brasilien und insbesondere Kolumbien suchen, weiter steigen.