Fanatiker in Rios Rathaus

Fanatiker in Rios Rathaus

Rio de Janeiro, die Stadt, die man wie keine zweite mit Ausschweifung, Lebensfreude und Freizügigkeit assoziiert, wird in den nächsten vier Jahren von einem konservativen Pastor regiert. Marcello Crivella von der Universalkirche des Reich Gottes hat am Sonntag die Stichwahl um das Bürgermeisteramt gegen den links-progressiven Kandidaten Marcelo Freixo gewonnen.

Foto: Prefeitura do Rio de Janeiro – www.rio.rj.gov.br/web/gbp, CC BY 3.0 br, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59132029

Crivella bekam fast 60 Prozent der gültigen Stimmen, Freixo rund 40 Prozent. Auffällig am Wahlergebnis ist, wie viele Menschen sich enthielten oder ungültig stimmten. Rund 40 Prozent der Wähler zogen es vor, für keinem der beiden Kandidaten zu votieren. Man muss wissen, dass in Brasilien Wahlpflicht herrscht.

Crivella also. Der schlanken 59-Jährige, dem immer etwas leicht Verklemmtes anhaftet, ist der erste evangelikale Christ, der eine große brasilianische Stadt regieren wird.

Sein Sieg ist einerseits das Ergebnis der tiefen politischen Krise Brasiliens, ausgelöst durch die Korruptionsskandale rund um die staatliche Erdölgesellschaft Petrobras. Insbesondere die Arbeiterpartei (PT) der abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff wurde dafür bei den Kommunalwahlen abgestraft – sie verlor 400 Rathäuser an konservative Kräfte. In Rio hingegen traf es die Partei PMDB, die die Stadt acht Jahre lang regiert hatte. Sie wollte sich mit den erfolgreichen Olympischen Spiele und den vielen Infrastruktur-Projekten der letzten Jahre brüsten. Aber die Wähler sahen es anders, zumal dem PMDB-Kandidaten der Vorwurf anlastete, seine Frau mehrfach geschlagen zu haben.

Für den überraschenden Erfolg Marcelo Crivellas war aber nicht nur die Krise ausschlaggebend. Er ist auch das Ergebnis des langfristig angelegten Machtprojekts der Universalkirche vom Reich Gottes. Marcelo Crivella ist der Neffe des Kirchengründers Edir Macedo, einer der reichsten Männer Brasiliens, der seine Kirche nicht nur über Lateinamerika sondern auch in Afrika erfolgreich ausbreitet. In Brasilien zählt die Universalkirche laut Selbstauskunft acht Millionen Gläubige, sie ist vor allem in den Armenvierteln erfolgreich. Von dort kamen auch in Rio die meisten Stimmen für Crivella, während die obere Mittelschicht sowie die Gebildeteren dem linken Menschenrechtler Marcelo Freixo ihre Stimme gaben. Macedo war es auch, der Crivella dazu drängte in die Politik zu gehen, obwohl dieser lieber seinem Hobby als Gospelsänger nachgegangen wäre.

Zwar mag Brasilien auf dem Papier mehrheitlich katholisch sein, aber konservative Evangelikale wie Macedo und Crivella geben heute den Ton an – auch über kircheneigene Fernsehkanäle und Radiosender. Schon lange drängen die Evangelikalen in der Politik. Sie stellen heute 190 von 594 Kongressmitgliedern. Diese stimmen meist geschlossen für konservative Gesetzesvorhaben, etwa gegen die Home-Ehe oder für ein noch schärferes Abtreibungsverbot. Die evangelikalen Kongressmitglieder waren auch maßgeblich am Sturz Dilma Rousseffs beteiligt.

Marcelo Crivella hat im Wahlkampf versucht, moderat zu erscheinen und seinen christlichen Glauben in den Hintergrund zu stellen. Er sagte, dass die Religion nicht in die Politik gehöre und er der Bürgermeister aller Cariocas (so heißen die Bewohner Rios) sein werde. Doch viele Beobachter vermuteten wahltaktisches Kalkül dahinter.

Während des Wahlkampfs wurde auch bekannt, dass Crivella den Katholizismus mehrfach als „dämonisch“ bezeichnet hatte und Homosexualität für das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Abtreibung hielt. Einmal schlug er vor, dass Exorzismus als Praxis ins öffentliche Gesundheitssystem aufgenommen werde. In einem Buch aus seiner zehnjährigen Zeit als Missionar in Afrika schrieb Crivella, dass Hindus das Blut von Kindern tränken und die Anhänger afrikanischer Religionen bösen Geistern huldigten. Dafür hat Crivella sich entschuldigt und sein Buch als das Werk eines unreifen Missionars bezeichnet. Allerdings war er bereits 42 Jahre alt, als er es veröffentlichte. „Wenn ich irgendjemand beleidigt haben sollte, entschuldige ich mich dafür“, sagte Crivella, der vor der Wahl lange Jahre im Senat in Brasília saß.

Viele junge, gebildete und fortschrittliche Bewohner Rios reagierten entsetzt auf die Wahl Crivellas, dessen Motto paternalistisch lautete: „Es ist an der Zeit, dass wir uns um euch kümmern.“ Crivella hat versprochen, dass die Gesundheitsstationen Rios sich besser um die Patienten kümmern werden. Außerdem werde er den Menschen Arbeit bringen. Das kam in den ärmeren Vierteln an. In Brasilien herrschen derzeit zwölf Prozent Arbeitslosigkeit, und die Gesundheitsversorgung ist insbesondere in Rio prekär.

In dieser Situation erschien der Kandidat der Linken, Marcelo Freixo, vielen einfachen Menschen als zu abgehoben, zumal die Medien ihn als Radikalen darstellten, der Marihuana legalisieren wolle und Kriminelle verteidige. Freixo vertrat lediglich ein klassisch sozialdemokratisches Programm, regte mehr sozialen Häuserbau, die Gründung eines städtischen Transportunternehmens und die Entmilitarisierung der Polizei an. Das war vielen zu komplex.

Auf der Siegesfeier von Crivella erschienen der offen faschistische Politiker Jair Bolsonaro, dessen Unterstützung Crivella ebenso angenommen hatte wie die einer Mafiamiliz, die in den westlichen Vororten Rios Schutzgelder erpresst. Auch Silas Malafaia, ein reaktionäre
und durchgeknallter evangelikaler Pastor (man muss das so sagen) feierte mit Crivella.
Rio de Janeiro, so scheint es, stehen schwere Zeiten bevor. Viele hoffen, dass die Stadt und ihre Kultur resistent genug sind, auch einen christlichen Fanatiker zu überstehen. Crivella sagte nach seinem Sieg: „Wir werden uns nicht an unseren Gegnern rächen.“ Dass er überhaupt auf diesen alttestamentarischen Gedanken gekommen war, ist Anlass zur Sorge genug.