Fünf Saiten sind ihm nicht genug

Fünf Saiten sind ihm nicht genug

Der Weg zu Hamilton de Holanda führt weit nach Westen hinaus, zuerst mit der neuen Metrolinie und dann mit dem Schnellbus über die Avenida das Américas, immer parallel zum Atlantikstrand, der hinter hellen Wohnblocks verborgen liegt.

Schließlich, schon fast an der Stadtgrenze, erreicht man eine gepflegte Apartmentanlage mit Einlasskontrolle. Hier hat sich Hamilton de Holanda vor einigen Jahren eine Wohnung gekauft. Es ist eine eher ungewöhnliche Wohngegend für einen Musiker in der Musikstadt Rio de Janeiro: etwas steril und ziemlich weit weg vom Geschehen.

Die Liebe habe in hier heraus gebracht, erklärt de Holanda später. Seine Freundin, die heute seine Frau ist, wohnte in der Nähe. Und für die drei Kinder des Paares sei es ideal hier draußen, ruhig und nicht weit zum Meer.

Die Liebe, der 41-jährige de Holanda wird sie immer wieder erwähnen. Sie gilt zuallererst einem ungewöhnlichen Instrument. Als kleiner Junge bekam er vom Großvater eine Mandoline in die Hand gedrückt – er sagt, logisch, „es war Liebe auf den ersten Klang“ – und ist heute einer der weltweit virtuosesten und außergewöhnlichsten Spieler dieses Instruments, das auf Portugiesisch Bandolim heißt.

Hamilton de Holanda kommt also mit einem breiten Lächeln, das er nie abzulegen scheint, in den grünen Innenhof, setzt sich und zupft und schlägt drauflos. Er improvisiert einige Melodien auf seiner Mandoline, so bunt wie die Blüten der tropischen Pflanzen um ihn herum, die Gärtner recken die Hälse. Was spielt der da? Hamilton de Holanda kann es selbst nicht so genau erklären. Er gilt als Allrounder, als Alleskönner, und er sagt etwas in seiner schönen Einfachheit sehr brasilianisches: „Die Musik kommt aus meinem Herzen. Da ist eine direkte Verbindung.“

Oft wird de Holanda als Jazzmusiker bezeichnet, weil er mit den Größen des Genres auftritt, etwa dem Trompeter Wynton Marsalis. Genauso selbstverständlich aber spielt er auf seiner Mandoline Samba und Pop; und vor allem den brasilianischen Choro, älterer Bruder des Sambas und ein Ergebnis der Vermischung europäischer Salon-Musik mit dem afrikanischen Lundu.

Nun mag der eine oder andere die Mandoline zunächst mit Mittelalterfestivals in Verbindung bringen, weil er sie mit der ihr verwandten aber viel älteren Laute verwechselt; oder man mag korrekt an die Musik des Barock denken, etwa an Kompositionen von Vivaldi, der eigens für sie komponierte; das Instrument stammt aus dem 17. Jahrhundert.

In Brasilien aber haftet der Mandoline nichts Antiquiertes an. Sie ist hier fast ein Alltagsinstrument, kam mit Portugiesen und Italienern über den Atlantik – und traf hier auf all die afrikanischen Rhythmen, die zur Grundlage der populären Musik des 20. Jahrhunderts wurden. Die mit der Mandoline verwandte Ukulele gehört beispielsweise zu jeder Sambarunde dazu.

Es war jedoch Hamilton de Holanda, der das Instrument aus seinem brasilianischen Kontext löste. „Ich bin viel auf Tour“, sagt er, „habe Anfragen aus der ganzen Welt“. In diesem Monat wird er mit seinem Trio (es kommen Bass und Perkussion hinzu) in Berlin sein, dann durch Italien und Portugal touren.

De Holanda war fünf Jahre alt, als er erstmals eine Mandoline hielt, das war in seiner Heimatstadt Brasília, bekannt für ihre futuristische Stadtanlage. „Es gibt in Brasília eine sehr lebendige Musikszene“, ergänzt de Holanda. „Dort üben die Musiker mehr als in Rio. Hier sind sie mehr am Strand“, bringt er einen Seitenhieb unter.

Geübt hat de Holanda sicher viel. Schon früh brachte er es zu solch einer Fingerfertigkeit, dass ihm die vier Doppelsaiten der klassischen Mandoline nicht mehr genügten. „Ich brauchte mehr Ausdrucksmöglichkeiten“, sagt er. Und so spielt er heute auf einer Spezialanfertigung mit fünf Doppelsaiten. Es scheint, als ob auch diese bald zu wenig sein könnten. Denn Hamilton de Holanda macht auf der Mandoline so revolutionäre Sachen, dass man ihn in den USA schon als „Jimi Hendrix der Mandoline“ bezeichnete. Er selbst glaubt bescheiden, dass der Vergleich mit seiner Haarpracht zu tun habe, einem unbändigen Afro („ich bin stolzer Mischling afrikanischer und europäischer Vorfahren“). Aber es ist doch wahrscheinlicher, dass die Analogie auf sein virtuoses Spiel gemünzt war. 2016 gewann de Holanda einen Latin Grammy für das beste Instrumentalalbum.

Zuletzt hat de Holanda die Musik von Milton Nascimento interpretiert, einem der größten lebenden Songwriter. Auch der ist so ein Universalist, bei dem die Genregrenzen keine Rolle mehr spielen. Auf dem Album findet sich auch eine Eigenkomposition de Holandas, ein Stück, bei dem er erstmals singt. Es geht in dem Text um den syrischen Flüchtlingsjungen, der 2015 tot an einen türkischen Strand gespült wurde, das Foto ging um die Welt. „Ich spürte einen so großen Schmerz in meiner Brust“, sagt er. „Das Foto zeigte etwas, das uns als Menschheit angeht.“

Weil er zu großer Empathie fähig ist, engagiert sich de Holanda auch sozial, gibt Musikworkshops für Kinder in Rios Favelas. „Ein Instrument zu spielen, kann dabei helfen, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln“, sagt er.

Ohnehin aber sei es doch in Brasilien ein Muss, Musik zu machen. Denn was bleibe denn sonst? Die Politik korrupt, die Wirtschaft in der Krise, der Fußball 1:7, die Gesellschaft polarisiert. „Die Sambarunde ist das letzte Gemeinschaftserlebnis, das wir noch haben. Die Fahne Brasiliens müsste aus Musik bestehen“, sagt Hamilton de Holanda. Er hat seine unverwechselbaren Klangfarben zu ihr hinzugefügt.