„Wir töten sie, oder sie töten uns“

„Wir töten sie, oder sie töten uns“

Wie viele Indios bei dem Massaker in einem abgelegenen Winkel Brasiliens von Goldsuchern getötet wurden, ist noch nicht klar. Waren es zehn oder gar 20? Bisher bestimmen Gerüchte das Bild.

Als sicher aber gilt, dass eine Gruppe von Ureinwohnern im brasilianischen Bundesstaat Amazonas umgebracht wurde. Sie gehörten einem so genannten nicht-kontaktierten Stamm an: Indios, die keinen Austausch mit der Außenwelt pflegen.

Das Massaker, das offenbar schon im August verübt, aber erst jetzt bekannt wurde, ereignete sich im isolierten Dreiländereck zwischen Brasilien, Peru und Kolumbien. In der Region liegt das Indio-Reservat Vale do Javari, in dem mindestens 14 der mehr als 100 unkontaktierten Völker Brasiliens leben. Das Reservat ist fast so groß wie die Portugal und bietet rund 7000 Indios Schutz – die wiederum den Amazonaswald und seine Flüsse beschützen.

Die mutmaßlichen Mörder der Indios sind Goldsucher, die illegal in der Region schürften. Bekannt wurde der Fall, als sie in einer Bar an der kolumbianischen Grenze mit ihrer Tat prahlten. Sie erzählten offenbar, dass sie die Indios zerstückelt und in einen Fluss geworfen hätten; und dass sie keine Wahl gehabt hätten: Wir töten sie, oder sie töten uns! Zum Beweis zeigten die Goldsucher Pfeile und ein handgeschnitztes Paddel der Indios, die man in der Region als „Flecheiros“ kannte.

Als Mitarbeiter der brasilianischen Indio-Behörde von der Geschichte hörten, alarmierten sie die brasilianische Bundespolizei. Diese hat zwei der Goldsucher festgenommen, bei denen sie Waffen fand. Die Union der Indigenen Völker im Javari-Tal (Univaja) bestätigte das Massaker und beklagte den fehlenden Schutz vor Eindringlingen.

Das Massaker an den „Flecheiros“ wäre bereits das zweite in der Region in diesem Jahr. Im Februar wurden zwischen zehn und 20 Angehörige des isolierten Stammes der Warikama Djapar umgebracht. Die Täter handelten damals offenbar im Auftrag eines Großgrundbesitzers, der Jagd, Fischzucht und Holzhandel betreibt und immer wieder illegal auf das Land der Indios vordringt.

Das Kalkül solcher Aktionen ist die Vertreibung der Indios. Sind sie weg, rodet man den Wald und schafft Fakten. Das ist zwar gegen das Gesetz, aber der brasilianische Bundesstaat ist schwach in der Amazonasregion, und die lokalen Behörden kooperieren häufig mit den Großgrundbesitzern.

Begünstigt wird die Vertreibungen der Ureinwohner durch die Politik von Präsident Michel Temer. Der Konservative gelangte vergangenes Jahr unter dubiosen Umständen an die Macht. Seitdem hat er viel getan, um die wirtschaftliche Ausbeutung der Amazonasregion voranzutreiben. Dahinter steckt auch sein Versuch, sich die Unterstützung von Kongressabgeordneten zu sichern, die die Interessen der Agrarindustrie und der Minenindustrie vertreten. Beide Wirtschaftszweige drängen auf die Öffnung der Amazonasregion. Im August waren es von ihnen unterstützte Politiker, die gegen eine Untersuchung Temers wegen Korruption stimmten. Ihr gebt mir Straffreiheit, ich gebe euch den Amazonaswald – so könnte der Deal gelautet haben.

Nun hat das Budget der Indioschutzbehörde Funai drastisch gekürzt: von umgerechnet zwei Millionen Euro auf 600000 Euro. Zudem wurden fünf Funai-Stützpunkte aufgelöst, die mit dem Schutz unkontaktierter Völker befasst waren. Drei dieser Stützpunkte lagen in Vale do Javari. Dabei ist schon seit einiger Zeit zu beobachten, dass vermehrt illegale Goldsucher in das Reservat eindringen. Sie verseuchen nicht nur die Flüsse mit Schwermetallen, sondern bringen auch Prostitution, Drogenhandel und Gewalt mit. Die Goldsucher selbst stammen meist aus armen Verhältnissen und arbeiten unter erbärmlichen Bedingungen für Investoren, welche häufig im Dunkeln bleiben.

Die Menschenrechtsorganisation Survival International, die sich für die Rechte von Ureinwohnern einsetzt, macht Präsident Temer für das jüngste Massaker direkt verantwortlich. Die Brasilien-Expertin Sarah Shenker sagte dieser Zeitung, dass die Regierung das Signal aussende, dass der Schutz des Amazonas und seiner Ureinwohner keine Priorität mehr habe. „Die Regierung ist nicht willens, die Ureinwohner zu schützen. Sie bricht die Verfassung, die sie dazu verpflichtet.“ Der Klage schließt sich die Union der Indigenen Völker im Javari-Tal an. Die Regierung lasse die Eindringlinge gewähren, heißt es in einem Statement. Zahlreiche Indio-Gruppen seien auf der Flucht, wovon die Öffentlichkeit nichts mitbekomme.

Erst vor wenigen Wochen verfügte Präsident Temer die Öffnung eines riesigen Naturschutzgebiets für die Minenindustrie. Zwar stoppte ein Gericht das Vorhaben, doch weitere liegen in der Schublade, etwa der Bau von Überlandstraßen. Der Druck auf die Ureinwohner Brasiliens und den Amazonaswald wird sich weiter erhöhen.