Getúlio und die Tram von Santa Teresa

Getúlio und die Tram von Santa Teresa

Sie suckelt knallgelb über die brandneuen Schienen. Kommt aus dem zugigen Zentrum mit seinen Businessblocks und Banktürmen, passiert die hässlichste Kathedrale der Welt, ein Betonbunker, angeblich den Kapseln der Apollo-Missionen nachempfunden, es war 1979.

Wagt sich in der Nachmittagssonne strahlend über die Arcos da Lapa, das 18 Meter hohe Aquädukt mit seinen weißen Doppelbögen, unter denen die Straßenkinder und Taschendiebe schlafen – und das sie jetzt für die Olympischen Spiele frisch getüncht haben. Scheint über das laute Vergnügungsviertel Lapa hinweg zu schweben. Und ist schließlich auf der anderen Seite der Brückenkonstruktion angelangt: Heimat!

Rattert jetzt fröhlich bergan übers Kopfsteinpflaster, an bunten Häusern vorbei, an Fantasieschlösschen und Kunstgalerien. Umso höher sie klettert, desto grüner wird es, desto weiter reichen die Aussichten: über Rio de Janeiros Bucht, die ausgedehnte Nordzone, die Favelas auf den Hügeln, bis hin zu den Bergen am Horizont. Der stressige Rest Rio de Janeiros, er ist unten zurückgeblieben.

Und die Tram, sie ist zurück in Santa Teresa. Rio de Janeiros schönstes und charmantestes Stadtviertel hat sein Wahrzeichen wieder. O bonde, die Tram.

Für Getúlio ist das wahrscheinlich die beste Nachricht der letzten fünf Jahre. Getúlio Damado ist Künstler. Ach was, er ist DER Künstler von Santa Teresa. Seit 30 Jahren macht er Kunst aus allem, was ihm in die Finger gelangt: Plastikflaschen, Kronkorken, Holzreste, Taschenradios. Aber besonders gut gehen seine Miniaturtrams in Originalgelb. In keinem Haushalt, keiner Bar in Santa Teresa darf ein Werk Getulios fehlen, es gibt sogar richtige Sammler.

Der 61-Jährige, Markenzeichen Hut, hat sein chaotisches Atelier in einem Holzwaggon neben den Tramschienen im oberen Teil Santa Teresas eingerichtet. Bonzolandia hat er sein Reich genannt. Wie auf dem Abenteuerspielplatz sieht es hier aus. Hämmer, Nägel, Zangen und Farbeimer liegen umher. Gerümpel, Holzreste, Verpackungen. Was für die einen Abfall ist, ist für Getúlio Rohstoff. Ein paar Meter entfernt wohnt der Kauz in einem Häuschen unter Bäumen.

„Die Tram von Santa Teresa“, sagt Getúlio an diesem Julinachmittag, „sie ist alles für mich.“ Vor drei Jahrzehnten kam er als armer Einwanderer aus dem Bundesstaat Minas Gerais nach Rio. „Ich habe ja versucht, im Supermarkt zu arbeiten“, sagt Getúlio, „aber ich habe eine Allergie gegen Chefs. Also wurde ich Künstler.“ Es ist ein ziemlich typischer Satz für Santa Teresa.

115 Jahre lang war die Tram die 17 Kilometer langen Schienenstränge durch das Bohème-Viertel hinauf- und hinabgefahren, zuckelte die letzten Kilometer sogar unter dem Blätterdach des Atlantischen Dschungels hindurch, bevor sie am Fuß des Corcovado-Bergs mit der Christus-Statur Endhalt machte. Sie war beliebt bei Bewohnern, die Benutzung kostete ein paar Cent. Und die Touristen genossen es, wenn sie direkt vor einem der kleinen Restaurants aussteigen konnten, für die Santa Teresa berühmt ist: das Süßwasserfischrestaurant Espírito Santa, der Anwohnertreffpunkt Simplessemente, das komplett gekachelte Mineiro oder die 100jährige Bar do Gomes, die eigentlich Armazém São Thiago heißt.

So war das in Santa. Bis 2011 das Unglück geschah. Die Bremsen eines Wagen versagten bei der Abfahrt und das Vehikel zerschellte an einer Mauer. Sechs Menschen starben, darunter der Tramführer. Mehr als 50 wurden verletzt. „Es war ein Schock“, erinnert sich Getúlio. Und es war ein Unfall mit Ankündigung.

Die Ursache war schnell gefunden: fehlende Wartung. Jahrelang hatte man die Einwagenbahnen kriminell vernachlässigt, hatte bei Reparaturen aus Geldmangel und Schlendrian nur noch improvisiert, ließ die Vehikel wortwörtlich verrotten. Wer vor dem Unglück in Santa Teresa mit der bonde gefahren war, der ahnte, dass etwas nicht stimmen konnte. Etwa wenn der Stromabnehmer mal wieder aus der Oberleitung rutschte. Oder wenn man zuhörte wie es im Innern der Gefährte klapperte, schepperte und rumorte. In der Kurve vor Getúlios Freiluftatelier quietschte es bei der Vorbeifahrt besonders schrill, weil im Lauf der Jahre alles aus der Spur geraten war. Das Kopfsteinpflaster und die Schienen.

Der Stimmung an Bord tat das keinen Abbruch. Besonders wenn es – wie eigentlich immer – zu voll war und man sich neben Wildfremde quetschte, die nach der Fahrt schon gute Bekannte waren. Die Schulkinder in ihren weiß-blauen Schul-T-Shirts liebten es, sich in Trauben an die Außengeländer zu klammern und die Köpfe in den engen Kurven lachend einzuziehen.

„Das war dann vorbei“, sagt Getúlio, und schlägt mit einer Machete auf einen Holzscheit ein. „Ich war sehr traurig.“ Nach dem Unfall wurde der Service sofort ausgesetzt. Es schien das Ende der letzten Straßenbahn Rio de Janeiros zu sein. Vor der Automobilisierung Mitte des 20. Jahrhunderts war Rio einmal eine richtige Straßenbahnstadt gewesen. Auf alten Filmaufnahmen sieht man, wie die Tramwagen kreuz und quer durch das Zentrum flitzen, immer voll mit Passagieren, die sich auf den Holztritten drängeln. Die Tram, sie spielte eine ihrer schönsten Rollen in einem der schönsten Rio-Filme überhaupt: dem „Orfeu Negro“ von Marcel Camus, der ausschließlich mit schwarzen Darstellern besetzt war und 1959 die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes gewann.

Ein Straßenbahnschaffner verkörpert darin die griechische Sagengestalt Orpheus. Die Unterwelt, sie ist ein trommelndes, tanzendes, singendes Rio. Und Seelenführer Hermes ist Chef des kleinen Straßenbahndepots in Santa Teresa. Just hier endet auch die Fahrt, auf der Orpheus seine Eurydike kennenlernt, eine verlorene Schönheit vom Lande. Und hier wird Eurydike auch den Tod finden, als sie nachts an eine Oberleitung greift, die Orpheus einschaltet, weil er Licht machen will. Getúlio hat den Film nie gesehen, „im Kino schlafe ich immer ein“, sagt er. Sambarunden, das sei eher seins. Wenn alle zusammen die alten Songs singen. „Tristeza não tem fim, felicidade sim!“ – Die Traurigkeit endet nie, das Glück schon.

Als das 20. Jahrhundert in sein letztes Viertel überging, war aus der Straßenbahnepoche nur eine einzige Tram übrig geblieben: die von Santa Teresa. Bis zu jenem Unglückstag im Jahr 2011.

Danach machten die Politiker, zu beschäftigt mit dem repräsentativen Umbau Rios, erst mal keine Anstalten, um sie wieder auf die Schienen zu bringen. Stadtpolitik, das bedeutete in Rio schon immer die Zerstörung des Alten zum Zwecke eines vermeintlichen Fortschritts; und zum Vorteil der Immobilienwirtschaft, die die Politik seit Jahrzehnten lenkt. Getúlio, der Tramkünstler, hat da schon ganz recht, wenn er sagt, dass der Bürgermeister von Rio sich nicht für die kleinen Leute interessiert. Aber dass die Kraft Brasiliens in der Kultur liege: im Überlebenswillen, dem Widerstand und der Kreativität der einfachen Leute. So wie ihm.

Das Zentrum Rios, es ist heute trauriger Zeuge der unseligen Allianz von Rathaus und Immobilienmafia. Anfang des 20. Jahrhunderts glich es Paris – und wirkt heute mit seinen verglasten Bürotürmen und Straßenschluchten, die nachts wie tot daliegen, nur noch wie irgendeine US-amerikanische Innenstadt. Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sich auch im Zentrum vor Olympia etwas getan hat: Plätze wurden saniert, alte Hafenspeicher zu Messehallen umgestaltet und: Und eine moderne Straßenbahn wurde auf die Schienen gebracht.

Völlig ausgenommen von den Verheerungen des 20. Jahrhunderts blieb aber nur ein Stadtteil: Santa Teresa. Größtenteils errichtet zwischen 1850 und 1950 als die Reichen aus dem stickigen Zentrum flüchteten und ihre Häuser in den Dschungel setzen, hat sich das Viertel eine bukolische Aura bewahrt. Wenn der Wind durch die Mangobäume rauscht, wenn die Kapuzineräffchen über die Stromleitungen neben Getúlios Atelier hechten, ein Tukan-Pärchen krächzt oder ein Hahn von irgendwoher kräht, meint man, auf dem Dorf zu sein. Dabei liegt Santa, wie es kurz genannt wird, mitten im Zentrum der Millionenmetropole.

Und deswegen wird hier auch deutlich, was Rio eigentlich ausmacht, warum die Stadt von den Brasilianern „maravilhosa“ genannt wird: wunderbar. Läuft man von Bonzolandia fünf Minuten die Straße hinauf, gelangt man zu einem Aussichtsplatz mit dem schönen Namen „Aussichtspunkt der nassen Maus“. Dort oben breitet sich eine Märchenlandschaft vor einem aus: tiefblaues Meer, gezackte Bergketten, steil aufragende Felsen, tropischer Wald, sichelförmige weiße Strände, die drittgrößte Bucht der Welt. Es ist das Zusammenspiel zwischen Stadt und Natur, die Rio ihren Reiz verleiht. Und fast nirgends wird das so deutlich wie in Santa Teresa, das in diese Landschaft hineingewachsen ist, anstatt sie mit Steinen und Beton zu füllen.

An den Hängen von Santa Teresas sind mit den Jahren Favelas hochgewachsen, Rios berühmt-berüchtigte Armenviertel. Es führt im Karneval, wenn die Grenzen zwischen arm und reich, schwarz und weiß verschwimmen zu einer gesunden Mischung auf den Straßenumzügen. Allerdings haben dieses Jahr auch in Santa Teresa die Straßenüberfälle zugenommen. So wie überall in Rio, das von der Wirtschaftskrise hart getroffen worden ist.

Nach dem Tram-Unfall hieß die Lösung für den öffentlichen Nahverkehr in Santa Teresa: Busse. Getúlio erzählt, dass die Busfahrer wie irre rasten. Bald hatten die unterbezahlten und gestressten Piloten einen Spitznamen weg: Kamikaze. Ihre Rennen resultierten in absurden Unfällen. Gleich neben Bonzolandia raste einer gegen einen Strommast. Täglich wurden irgendwo Außenspiegel geparkter Autos abgefahren. Die Bewohner Santa Teresas begannen zu rebellierten. Ohnehin gelten sie als politischer, alternativer, aufmüpfiger. Überdurchschnittlich viele Künstler, Filmemacher und Musiker leben hier. Einen schönen Spruch liest man besonders häufig auf den T-Shirts in den Souvenirläden: „Gentileza gera Gentileza“ – Freundlichkeit schafft Freundlichkeit.

Doch mit der Freundlichkeit war es nun vorbei: Die Santa Teresianer wollten ihre Tram zurück – saniert und sicher. Sie riefen zu Demos auf, sprühten es auf Wände und Busse, schrieben Leserbriefe, gründeten Facebook-Seiten. In der Zeit schuf Getúliuo eine Installation. „Tram der Polemik“, nannte er sie. „Ohne die Tram war Santa Teresa ja nicht mehr Santa Teresa“, sagt er. Es war ein bisschen so, als hätte man Venedig die Gondeln geraubt.

Die Protestbewegung, sie wollte den Unfall nicht vergessen. Sie wollte erinnern. Es gibt viele Wandbilder im Künstlerdorf in Santa Teresa. Auf dem meist fotografierten sieht man eine Tram, die von einem lachenden Schwarzen gelenkt wird. Nur wenige wissen, dass es Nelson Correia da Silva ist. 35 Jahre hatte er die Tram geführt, ehe er bei dem Unfall starb. In Santa Teresa war der 57-Jährige bekannt und beliebt. Gentileza gera Gentileza.

Irgendwann musste es dann auch der Politik gedämmert haben, wie wichtig die Tram für das Image Rios ist. Im November 2013 begannen die Erneuerungsarbeiten. Man riss das Kopfsteinpflaster auf und tauschte die verbogenen und zerbeulten Schienen aus. Vollmundig versprach die Politik, bis zur Fußball-WM Mitte 2014 fertig zu sein. Dass das unrealistisch war, ahnte jeder, der sich ein wenig auskannte mit Korruption und Planungschaos in Rio. „Aber ein Anfang war gemacht“, erinnert sich Getúlio. Neue Wagen wurden in Portugal bestellt – im Originalstil, darauf bestanden die Einwohner –, neue Oberleitungen installiert.

Im unteren Teil Santa Teresas ist die Strecke nun fertig und seit einigen Monaten macht die Tram Probefahrten: vom Endhalt an der Station Carioca im Zentrum bis hinauf zum Largo dos Guimarães. Der Platz ist mit seinem kleinen Kino, dem Zeitungskiosk, den Restaurants und Bars so etwas wie das Zentrum Santa Teresas. Die Fahrt dauert 15 Minuten, bis zu 32 Passagiere dürfen gratis mit. Anders als früher geht es sehr gesittet zu. Das Stehen ist nicht mehr erlaubt, die Geschwindigkeit reduziert, das Ein- und Aussteigen findet unter Aufsicht zweier Fahrzeugführer statt.

„Das wichtigste ist doch“, sagt Getúlio, „dass die Räder wieder rattern“. Obwohl die Schienen bereits liegen, kommt die Tram noch nicht bis nach Bonzolandia hochgefahren. Aber er hofft, dass es bald so weit ist. Der Künstler und seine große Liebe, sie wären dann wieder vereint.