Kolumbiens Krieg um den Frieden

Kolumbiens Krieg um den Frieden

Sie habe vor den Todgeweihten gestanden und gebetet, erinnert sich Florenia Parradias. Sie habe damals den Befehl gehabt, die drei zu töten.

Wenn sie es nicht täte, würde man sie umbringen. Dabei habe sie die Jungs doch aus Kindheitstagen gekannt. Sie seien so alt gewesen wie sie selbst, also noch viel zu jung für all das. „Ich sah ihre Blicke, die flehten, ‘töte mich nicht!’“

An dieser Stelle stockt Florenia Parradias. Zum ersten Mal. Aber sie fängt sich und redet weiter. Mit sanfter und schwingender Stimme. Trotz der harten und so unverrückbaren Dinge, die sie ausspricht.
Florenia Parradias sitzt in modisch zerrissenen Jeans in der Lobby eines Hotels in der kolumbianischen Provinzstadt Villavicencio. Ihre hohen Backenknochen und langen schwarzen Haaren verleihen der 40-Jährigen etwas Indigenes. Ein bisschen herausgeputzt hat sie sich, mit Lipgloss und glitzernden Ohrringe. Die Trauer in ihren Augen vertreiben sie nicht.

Villavicencio liegt im Zentrum Kolumbiens auf der Südseite der Anden. Die mächtigen Berge laufen hier in eine schwüle Ebene mit riesigen Rinderweiden und Palmölpantagen aus, die schließlich in den Amazonas-Dschungel übergeht. Weite Teile der Region wurden bis vor kurzem von der marxistischen Guerillagruppe Farc beherrscht, den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens. Aber auch rechte paramilitärische Gruppen trieben hier ihr Unwesen. Und die Drogenkartelle aus Medellín und Cali.

Es war die explosive Mischung, die den Bürgerkrieg in Kolumbien so unübersichtlich machte. Ein Konflikt, der länger dauerte als der 30-Jährige Krieg und ebenso brutal war. Ein Krieg auch, in dem die Eindeutigkeit verloren ging.

Wie will man nach so einem Krieg Frieden machen?

In dem Hotel in Villavicencio haben sich drei Dutzend Menschen getroffen. Sie alle sind Opfer dieses Krieges. Mütter sind hier, deren Kinder von der Guerilla oder den Paramilitärs entführt wurden. „Wo ist meine Tochter?“, ruft eine Frau. Ein Mann berichtet in allen schmerzlichen Details, wie er von der Armee gefoltert worden sei. Aber so unterschiedlich ihre Geschichten sind, so einig sind sie sich in ihren Forderungen: Wahrheit und Gerechtigkeit. Beide sind in Kolumbien nur schwer zu bekommen.

Vor wenigen Tagen hat Kolumbiens Präsident Manuel Santos den kolumbianischen Bürgerkrieg für „wahrlich beendet“ erklärt. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Krieg. Die Farc haben ihre Waffen den Vereinten Nationen übergeben, daraus sollen Denkmäler gegossen werden. Bereits seit November ist ein Abkommen zwischen der Farc und der Regierung in Kraft. Es sieht eine Amnestie für die Ex-Guerilleros vor (Kriegsverbrechen ausgenommen) sowie ihre Eingliederung in die Gesellschaft mit einem Startgeld von monatlich 200 Euro. Zudem werden die Farc am 1. September eine politische Partei gründen, ihr neuer Name: Revolutionäre Alternative Kraft Kolumbiens (Farc). Es brauchte mehr als 220.000 Tote, 33.000 Entführungen, 60.000 Vermisste und sieben Million Vertriebene, um dahin zu kommen.

Nun versuchen die Kolumbianer, sich mit diesem Frieden zu arrangieren. Die Opfer in Villavicencio. Ebenso wie die Täter.

Vier Autostunden südlich von Villavicencio zeigt Julián Suárez auf eine junge Frau, die in einer Waschbaracke ein Baby einseift. „Das ist ein Friedensbaby“, sagt er.

Die Baracke aus Holz und Kunststoffplanen ist nach allen Seiten hin offen. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen sind hier, einige in Unterwäsche. Sie schöpfen Wasser aus Bottichen und gießen es sich über. Sie alle sind Ex-Kämpfer der marxistischen Guerilla.

„Das Baby der Compañera“, erklärt Julián Suárez, „wurde hier im Camp geboren. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags. Wir nennen solche Kinder Niños de la Paz.“ Noch vor knapp einem Jahr wäre diese Szene unmöglich gewesen. Den Farc-Frauen – ihr Anteil betrug 30 bis 40 Prozent – war es verboten, Kinder zu kriegen. Wurden sie dennoch schwanger, zwang man sie, abzutreiben oder ihre Kinder wegzugeben. Krieg und Kinder, das vertrug sich nicht.

Diese Zeiten sind vorbei. 7000 Farc-Kämpfer haben sich Anfang des Jahres in „Transitions- und Normalisierungsscamps“ gesammelt. In diesen Camps sollen sie den Einstieg ins zivile Leben vorbereitet proben. Folglich dürfen sie auch Nachwuchs zeugen.

Julián Suárez führt durch das Camp in der Gemeinde Mesetas im kolumbianischen Departement Meta. Mit 500 Ex-Kämpfern es es das größte der insgesamt 26 Camps. Suárez trägt eine Tarnhose und das knallgelbe Trikot von Kolumbiens Fußballnationalteam, ein Outfit des Übergangs: kein Guerillero mehr, aber auch noch nicht Zivilist.

Suárez schloss sich mit 17 Jahren den Farc an, um dagegen zu kämpfen, dass so wenige so reich und so viele so arm seien, wie er sagt. Bis vergangenen September gehörte er zum Führungsstab seiner Farc-Einheit. Heute ist der eloquente 35-Jährige der Sprecher des Camps in Mesetas.

Allerdings ist Suárez auch der Neffe des Farc-Kommandanten Víctor Julio Suárez, alias Mono Jojoy. Dieser war für seine Massaker an Zivilisten berüchtigt und wurde 2010 bei einem Bombenangriff der Armee getötet. Julián Suárez stand 40 Meter von ihm entfernt und überlebte mit Verbrennungen auf dem Rücken.
Doch das verschweigt er. Vielleicht will er nicht über diese Vergangenheit sprechen, weil er sie hinter sich lassen möchte. Denn das scheint schwieriger zu sein als gedacht. Zwar sind die Farc entwaffnet, aber die Zukunft vieler Ex-Guerilleros ist unklar. „Der Frieden“, sagt Suárez, „ist kompliziert“.

Florenia Parradias in Villavicencio findet das nicht. Für sie ist der Krieg noch gar nicht vorbei. Erst vor einer Woche, erzählt sie, hätten Unbekannte auf ihr Haus geschossen. Sie lebt dort mit ihren beiden Töchtern und einem Sohn. Er ist 16 Jahre alt und das Produkt einer Vergewaltigung durch vier Paramilitärs. Welcher der Vater ist, weiß Parradias nicht. Jetzt erhalte sie Morddrohungen von den Paras, weil sie in einer Opferorganisation mitmache. „Sie haben gesagt, dass wir still sein sollen.“
Am Anfang von Parradias Geschichte standen aber nicht die Paramilitärs, sondern Leute wie Mono Jojoy und Julían Suárez. Und davor stand: die Armut.

Florenia Parradias war zwölf Jahre alt, als sie mit ihren Brüdern von Zuhause fortging, weil ihre Mutter sie nicht mehr ernähren konnte. Sie arbeitete fortan auf einer abgelegenen Koka-Plantage in einer sogenannten Rote Zone. Dort herrschte die Farc-Guerilla, deren Kämpfer sie eines Tages zwangen, sich ihnen anzuschließen.

Zunächst überließen die Farc sie dem berüchtigten Drogenhändler Carlos Lehder. Der hatte mit Pablo Escobar das Medellín-Cartel aufgebaut und überwachte nun im Dschungel den Bau geheimer Landepisten, um Kokain mit Kleinflugzeugen in die USA zu schmuggeln. An die Farc zahlte Lehder eine Revolutionssteuer und besorgte ihnen Waffen. Heute sitzt er in den USA im Gefängnis.

Das erste, was Lehder tat: Er vergewaltigte Florenia Parradias. „Ich hatte noch nicht einmal Brüste“, sagt sie. „Hinterher schickte er mich an einen Fluss, ich sollte mich waschen.“

Parradias wurde in die 16. Front der Farc aufgenommen und lernte mit Waffen umzugehen. Bis man sie zwingen wollte, drei Bekannte von ihr auf einer Finca zu erschießen. „Ich betete“, sagt sie: „Ich habe gelernt, zu arbeiten, aber nicht zu töten. Ich will das nicht.“ Dann sei ein „Engel“ erschienen – so nennt Parradias ihn wirklich. Ein anderer Guerillero habe die drei für sie exekutiert, sie nannten ihn El Loco, den Irren. Darf sie ihm dafür dankbar sein?

Im Gespräch sagt Farc-Mann Julián Suárez, dass die Guerilla manchen Menschen Unrecht angetan habe und dass er dafür gerne um Entschuldigung bitten würde. Dennoch haben andere Dinge im Camp Priorität. Die Guerilla hat das Lager in eine sanfte Hügellandschaft gebaut. Mehrere hundert Unterkünfte gruppieren sich hier um einen Fußballplatz. Früher war die Gegend hart umkämpft. Was auch daran zu sehen ist, dass entlang der verschlammten Zufahrt Minen von Spezialisten entschärft werden.

Im Camp folgen die Ex-Guerilleros einem festen Tagesablauf: Bauarbeiten, Küchendienst, Hygiene, politische Bildung. Dennoch breite sich Unruhe aus, viele hätten die Nase voll, sagt Julián Suárez. Der Friedensprozess laufe nicht rund.

Dafür macht er die kolumbianische Regierung verantwortlich: „Sie erfüllt ihre Pflichten aus dem Vertrag nicht.“ Das habe schon angefangen, als die Farc in Mesetas eingerückt seien und keins der versprochenen Gebäude gestanden habe. Also bauten die Guerilleros ihre Unterkünfte aus Bambus, Holz und Plastikplanen selbst. Doch das ist jetzt acht Monate her.

Tatsächlich sollte Mesetas einmal ein Vorzeigeprojekt werden. Im Januar kam der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Helikopter eingeschwebt. Berlin fördert den Friedensprozess in Kolumbien mit zwölf Millionen Euro, das Departement Meta ist Schwerpunktregion.

Aber nun führt Suárez zur Küchenbaracke, in der auf einem Lehmherd gekocht wird. An anderer Stelle heben Ex-Kämpfer einen Kanal aus, damit Regenwasser abfließen kann. Andere sitzen vor ihren Hütten und dösen. Drinnen, unter den Plastikplanen, sei es viel zu heiß, sagen sie. Vieles hier erinnert eher an ein Flüchtlingslager als an ein ambitioniertes Friedensprojekt.

Dabei wäre eigentlich schon eine neue Phase im Friedensprozess vorgesehen: die Umwandlung der 26 Sammelcamps in „Orte der Wiedereingliederung und Ausbildung“. Aber die Zeitvorgabe kann nicht eingehalten werden, weil die Regierung keinen Plan zur Eingliederung und Ausbildung hat. Letztere würde beispielsweise Alphabetisierungskurse beinhalten, aber auch Vorbereitung auf handwerkliche Berufe.

Davon ist in Mesetas bisher nichts zu sehen. Die meisten der Guerillakämpfer stammen aus armen Bauernfamilien, haben außer Landwirtschaft und Krieg nicht viel gelernt. Nun fühlen sie sich hingehalten. Eine heikle Situation.

Dass Chaos in der Verwaltung von Präsident Manuel Santos herrsche, schreiben gut informierte kolumbianische Journalisten. Institutionen wie die Wahrheitskommission und „Einheit zur Suche“ nach den Zehntausenden Vermissten sind noch überhaupt nicht geschaffen. Manche spekulieren, ob es der Regierung nur darum gegangen sei, die Farc zu entwaffnen. Es ist ein böser Verdacht. Schon ist von der Entgleisung des Friedensprozesses die Rede.

Später, im Präsidentenpalast in Bogotá, wird der Hochkommissar für den Frieden, Sergio Jaramillo, sagen, dass all das nicht stimme. Leider sei der Staat ein träges Gebilde und in ländlichen Gebieten schwach. Aber es fehle nicht an Willen, sondern an Geschwindigkeit.

Nun hat die Regierung endlich Ingenieure nach Mesetas geschickt. Etwas abseits haben sie mit Hilfe der Ex-Guerilleros begonnen, große Betonfundamente zu gießen und Metallgerüste zu errichten. In den Gebäuden sollen die Farc-Kämpfer unterkommen, die nach der Auflösung des Camps in Mesetas bleiben wollen. „Wir wollen eine Landwirtschaftskooperative aufbauen“, erklärt Julián Suárez. Wer mitmachen wolle, könne mitmachen. Es ist ein Angebot, das sich gut anhört. Wie aber eine Kooperative hier draußen ohne Straßen und Vertriebswege funktionieren soll, weiß auch Suárez nicht. Die Regierung hatte im Friedensabkommen versprochen, den vernachlässigten ländlichen Raum zu entwickeln. Doch bis heute existiert nur eine löchrige Staubpiste, um nach Mesetas zu gelangen.

Diese Ungewissheit ist ein Grund, warum zuletzt 80 Farc-Leute aus dem Camp in Mesetas abgehauen sind – noch bevor sie Ausweispapiere erhalten haben. Einige haben sich offenbar einer Truppe von 200 abtrünnigen Farc-Kämpfern angeschlossen, die weiter im lukrativen Kokainhandel mitmischen will. Sie ist für mehrere Bombenanschläge in der Region verantwortlich. Der Krieg, so scheint es, wird seine Schatten noch länger über Kolumbien werfen.

Ob er jemals für Florenia Parradias endet? Als sich als unfähig erweist, zu töten, machte man sie zur Assistentin von Carlos Lehder. Eine ihre Aufgaben bestand darin, Joints für ihn zu drehen. „Zum Glück war ich nie in einem Gefecht“, sagt sie.

Schließlich, nach vier Jahren, gelang ihr mit einem ihrer beiden Brüder die Flucht durch den Dschungel, Er war ebenfalls von der Farc rekrutiert worden. Auf der langen Flucht sei sie fast verhungert, ertrunken und an Malaria gestorben, erinnert sie sich. Indianer hätten sie schließlich gesund gepflegt. Man habe dann auch den ältesten Bruder gefunden und sei zurück zur Mutter gelangt, die mittlerweile den Verstand verloren habe.

Dies könnte das Ende der abenteuerlichen Kriegsgeschichte von Florenia Parradias sein. Aber es war nur der Beginn eines neuen Kapitels. Denn nun wurden Florenia und ihre Brüder gesucht, weil man glaubte, sie hätten ein Geldversteck von Carlos Lehder entdeckt und ausgeraubt. Aus Rache wurden ihre Brüder von den Farc ermordet.

Florenia Parradias lebt bis heute in Furcht vor den Paramilitärs, die es auf ehemalige Farc-Guerillas abgesehen haben. Von der kolumbianischen Regierung fühlt sie sich alleine gelassen: „Die Opfer sind für sie unsichtbar“, sagt sie. Ein Vorwurf, denn alle Opfer im Hotel in Villavicencio erheben. „Wo ist die Wahrheit, wo die Gerechtigkeit, die man uns versprochen hat?“, fragt eine Frau, deren Tochter verschwunden ist.

– Die Recherche zu dieser Reportage wurde vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat ermöglicht, das den Aussöhnungsprozess in Kolumbien unterstützt.