Mexiko: Wo sind die 43 Studenten?

Mexiko: Wo sind die 43 Studenten?

Gebückt, als ob er Zentner trüge, kommt Epifanio Àlvarez auf die Bühne vor dem Revolutionsmonument im Zentrum von Mexiko-Stadt. In der Rechten hält er ein Plakat: das Foto eines jungen Mannes.

Jemand reicht Àlvarez ein Mikrofon, und er ruft: „Wir sind nur Bauern und vielleicht haben wir nicht die richtigen Worte. Aber in unseren Herzen tragen wir Wut. Hier stehen wir und leiden – und werden solange leiden, bis wir unsere Söhne wieder sehen.“ 10 000 Menschen antworten: „Ihr seid nicht allein!“

Hinter dem bärengleichen Àlvarez drängeln sich weitere Männer und Frauen. Einfache Bauern wie er, mit sonnengegerbten Gesichtern, Strohhüten und in Ledersandalen. Einige Frauen tragen bunte Röcke und die Haare zu langen Zöpfen geflochten. Alle halten großformatige Fotos von jungen Männern in den Händen. Nacheinander treten sie nun vor. „Mein Sohn hat niemandem etwas getan“, sagt eine Frau in fehlerhaftem Spanisch mit indianischem Akzent. „Die Kriminellen sind die Polizisten und Soldaten.“

Am Ende erschallt ein Ruf über den Platz vor dem Monument, minutenlang: „Sie haben sie lebend mitgenommen – lebend wollen wir sie wieder haben.“

Vor vier Monaten jagte die Polizei mehrere Hundert Lehramtsstudenten durch die mexikanische Provinzstadt Iguala. Drei Studenten fand man anschließend tot auf der Straße, einen mit abgezogener Gesichtshaut, ohne Nase und Augen. Außerdem erschossen die Beamten drei Unbeteiligte. 43 Studenten wurden von der Polizei festgesetzt und abtransportiert. Von einem wurden mittlerweile Knochen gefunden. Von den restlichen 42 fehlt jede Spur. Unter ihnen Jorge Àlvarez, 19 Jahre alt, Sohn von Epifanio Àlvarez und seiner Frau Blanca, Maisbauern aus dem Bergdorf La Palma im armen und vom Staat vergessenen Bundesstaat Guerrero, vier Stunden südwestlich von Mexiko-Stadt.

Eine Protestbewegung ist seitdem entstanden, wie sie Mexiko seit Jahren nicht gesehen hat. Sie fordert nicht nur die Rückkehr der Studenten, sondern die Neugründung der Nation. Was ist das für ein Land, in dem 43 junge Menschen verschwinden können, entführt von Polizisten? In dem der Präsident elf Tage braucht, um Worte zu finden – und dann lieber nach Asien reist anstatt nach Iguala. In dem der oberste Staatsanwalt, in Widersprüche verstrickt, klagt, dass ihn der Fall ermüde. In dem wöchentlich Massengräber mit verstümmelten Leichen gefunden werden. In Mexiko sind seit 2007 rund 23 000 Personen verschwunden. Jeden Tag werden acht Vermisste gemeldet. Die Mehrheit: Jugendliche.

So sind die 43 Studenten zum Symbol geworden: Für ein Land, in dem vielerorts das organisierte Verbrechen herrscht und die Menschen in Angst und Hilflosigkeit ersticken. In dem der Staat vorgibt, die Mafia zu bekämpfen und von dieser gar nicht mehr zu unterscheiden ist.

Nach der Kundgebung besteigt Epifanio Àlvarez einen Bus, der ihn zurück nach Guerrero bringt. Er schweigt, starrt vor sich hin, genauso wie die anderen Eltern der vermissten Studenten. Erst am Morgen standen sie vor der deutschen Botschaft in Mexiko-Stadt, weil die Polizei in Iguala mit Gewehren des Waffenherstellers Heckler & Koch ausgerüstet war. Kein offizieller Vertreter ließ sich blicken. „Wir sind müde“, sagt Àlvarez, „wir warten seit Monaten auf Antworten“. Einmal hat er sie beim Präsidenten persönlich gesucht. Staatschef Enrique Peña Nieto empfing die Eltern in seinem Palast. „Aber er hatte keine Worte für uns“, sagt Àlvarez, „nur Geschwätz“. Nun sind die Eltern überzeugt, dass die Regierung etwas vertuschen will.

Auf der nächtlichen Reise überholt der Bus einen Truppenkonvoi der mexikanischen Armee, der ebenfalls in Richtung Guerrero fährt. Die Soldaten auf den Pritschen sind vermummt, tragen Schilder, jeweils zwei stehen an Maschinengewehren. Im Bus bricht Unruhe aus, ein Satz macht die Runde: Sie kommen, um uns zu unterdrücken. Seit Wochen gibt es in Guerrero Ausschreitungen. Studenten und Lehrer besetzen Rathäuser und Mautstellen an der Autobahn zum Küstenort Acapulco, stecken Streifenwagen in Brand, schmeißen Molotowcocktails auf Armeekasernen. Bei einem Protest schlugen Soldaten einige Eltern krankenhausreif.

Nach Mitternacht erreichen der Bus das von dunklen Bergen umstellte Örtchen Tixtla. Er passiert ein Metalltor, dahinter liegt das Lehrerseminar Ayotzinapa. Der kleine Campus mit seinen geduckten Gebäuden ist zum Zentrum des Protests geworden. Seit dem Massaker wohnen Epifanio Àlvaro und seine Frau hier in einem Zimmerchen, schlafen auf alten Matratzen, benutzen die Gemeinschaftstoiletten, essen die Bohnen, die auf dem Versammlungsplatz in großen Töpfen gekocht werden. Einmal hätten sie versucht, in ihr Haus in La Palma zurückzukehren, berichtet Àlvarez. Aber da hätten sie die Gitarre von Jorge gesehen und seine Frau sei zusammengebrochen. Nun sei ihr Platz in Ayotzinapa, wo Jorge versucht habe, im Leben voran zukommen.

Im Grunde beginnt die Geschichte der 43 verschwundenen Studenten nach der mexikanischen Revolution, in den 1920er Jahren. Damals wurden in vielen ländlichen Regionen Lehrerseminare gegründet. Die Söhne armer Bauern sollten ausgebildet in die Dörfer ziehen und alphabetisieren. Der Schrei der Revolution war noch jung: Land und Freiheit!
In Ayotzinapa ist er bis heute lebendig, prangt auf einer Wand neben dem Porträt seines Urhebers Emiliano Zapata. Andernorts haben die Studenten die Gesichter von Ché Guevara und Karl Marx aufgemalt. In den Treppenhäusern, in der Mensa, überall finden sich revolutionäre Parolen: „Besser aufrecht sterben, als auf Knien leben!“

In Guerrero, dem zweitärmsten mexikanische Bundesstaat, haben die Lehrerschulen sich den Ruf erworben, Rebellen hervorzubringen. Auch deswegen hat der Staat von einst 40 Schulen 24 geschlossen. Den Rest lässt er ausbluten. In vielen Klassenzimmern in Ayotzinapa fehlt das Fensterglas, die Gebäude bröckeln. Seit Jahren protestieren die Studenten dagegen. 2011 erschoss die Polizei zwei von ihnen bei einer Straßenblockade.

„Wir sind berühmt für unsere kämpferische Haltung“, sagt Uriel Alonso am nächsten Morgen vor dem Kaffeeausschank. „Wir erfahren das Elend ja am eigenen Leib.“ Alonso, 19 Jahre alt, mit breiten indianischen Züge, studiert in Ayozinapa. Er war in der Nacht des Massakers in Iguala, überlebte hinter einem Bus versteckt, der von Kugeln durchsiebt wurde.

Unbestritten ist, dass die Studenten in die Stadt kamen, um sich Busse anzueignen, mit denen sie zu einem Gedenkmarsch nach Mexiko-Stadt fahren wollten. Doch was geschah dann? Die Versionen unterscheiden sich. Die des mexikanischen Bundesanwalt lautet: Igualas Bürgermeister erteilte der Lokalpolizei einen Angriffsbefehl auf die Studenten. Er paktierte mit dem Drogenkartell Guerreros Unidos, hatte selbst schon zwei Rivalen erschossen, und befürchtete nun, die Studenten könnten eine Wahlkampfveranstaltung seiner Frau stören, die als Schatzmeisterin der Mafia tätig war. Die 43 während der Aktion Festgenommenen seien dann der Mafia übergeben worden sein. Rund zwei Dutzend seien beim Transport in einem Lieferwagen erstickt, die restlichen von der den Kriminellen erschossen worden. Anschließend hätten sie die Leichen auf einer Müllhalde in Igualas Nachbarort Cocula stundenlang verbrannt, die Überreste gesiebt und in Tüten abgefüllt in einen Fluss geworfen.

Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Version auf die Aussage von vier Kartellmitgliedern. Diese wurden jedoch, so viel ist klar, gefoltert. Zudem haben Experten die Unmöglichkeit der beschriebenen Einäscherung nachgewiesen. Niemand in der Umgebung der Müllhalde hat einen Feuerschein gesehen oder Rauch wahrgenommen. Außerdem regnete es in der fraglichen Nacht. Zwar wurden 17 Knochenreste gefunden, doch nur einer konnte bisher einem der Studenten zugewiesen werden. Ausgerechnet bei diesem Fund waren die extra angeforderten argentinischen Forensiker nicht dabei.

Wem die restlichen Knochen gehörten, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Sie wurden unter so großer Hitze verbrannt, dass selbst das auf diese Analyse spezialisierte forensische Institut der Universität Innsbruck keinen DNA-Nachweis mehr führen kann. Mexikanische Physiker schlussfolgern, dass die Knochen in einem Krematorium verbrannt worden sein müssen. Die Militärkaserne von Cocula besitzt ein Krematorium.

Am Mittag macht sich Uriel Alonso auf in sein Heimatdorf, es findet eine Hochzeit statt. Die Fahrt auf der Ladefläche eines Pickups dauert zwei Stunden, führt über eine kurvige Bergstraße. Es ist die Fahrt in ein von Gewalt versehrtes Land ohne Recht und Gerechtigkeit, in weiten Teilen von Drogenkartellen beherrscht, mit einem Staat, den die Menschen vor allem als Unterdrücker kennen. Sogar vier katholische Priester, bekannt für ihre kritische Haltung, wurden in jüngster Zeit in Guerrero umgebracht. Unterwegs liest man auf den Schildern die einfachste aller Parolen: „43!“

Schließlich geht es über eine Piste und vorbei an einer Barrikade aus Sandsäcken. Daneben stehen Männer mit Flinten. Es sind die Comunitarios: Männer aus Alonsos Dorf, die vor zwei Jahren die Guerreros Unidos vertrieben haben und jetzt die Dorfpolizei stellen. Die Mafia hatte den Ort terrorisiert, Schutzgelder erpresst. „Einmal hielten sie mir eine Knarre an den Kopf“, sagt Alonso. Es war das erste Mal, dass man eine Waffe ihn richtete. Das zweite Mal tat es die Polizei von Iguala. In jener Nacht verschwanden vier seiner Kommilitonen aus dem Dorf.

Alonso besucht die Schwester eines Vermissten. Das Haus der Familie von Tagelöhnern besteht aus Lehmziegeln, zwei karge Räume, der Boden aus Erde, der Esstisch dient als Altar, darauf das Foto des Vermissten, 19 Jahre alt. Die Mutter hat einen Brief an ihn geschrieben, er ist in der Indianersprache Mixteco verfasst, die Schwester übersetzt. „Wenn ich wüsste, wo du bist, würde ich zu dir rennen, um dich zu retten. Ganz egal ob es mich das Leben kosten würde.“

Es ist der Schmerz, der die Dörfer Guerreros lautlos durchzieht. Schon in den siebziger Jahren entführte das Militär in einem schmutzigen Krieg gegen linke Guerillas wahllos Bauern. So verschwand der Großvater eines der jetzt vermissten Studenten. Dann kamen die Drogenkartelle, die in den unzugänglichen Bergen ideale Anbaubedingungen für Mohn und Marihuana vorfanden. 2008 gründeten sich die Guerreros Unidos, die Entführung und Erpressung zum Geschäft hinzufügten. Sie finanzieren die Wahlkämpfe von Politikern und unterwandern die Lokalverwaltungen.
„Die Guerreros sollen die 43 umgebracht haben. Aber der Staat hängt mit drin“, sagt Vidulfo Rosales am Abend in Ayotzinapa. Der 38-Jährige ist Anwalt bei der Menschenrechtsgruppe Tlachinollan. Er macht eine wegwerfende Handbewegung, so als ob er sagen wollte: Sie kommen uns doch immer mit den gleichen Lügen.

2012 erhielt Rosales eine Morddrohung: „Halt’s Maul oder wir schicken dich in Stücken nachhause!“ Damals vertrat er Bauern, die für einen Staudammbau vertrieben werden sollten. Rosales ging für einige Monate in die USA, kehrte zurück, vertritt nun die Eltern der 43. Auch deswegen führt der mexikanische Inlandsgeheimdienst eine Akte über ihn, er gilt als subversiv. Rosales glaubt, dass die Regierung den Studenten eine Lektion erteilen wollte: „Wer sich wehrt, lebt gefährlich.“ Sie hätte nur nicht damit gerechnet, dass der Fall so viel Aufmerksamkeit erregen würde, sogar US-Präsident Obama fordert Aufklärung.

„Wir wissen, dass die Armee mit der Sache zu tun hat“, sagt Vidulfo Rosales. „Die Fäden reichen bis ganz oben.“ Tatsächlich ist erwiesen, dass der militärische Geheimdienst die Studenten in der Nacht des Massakers überwachte. Mehrfach verweigerten Soldaten den jungen Leuten Hilfe, bedrohten sie stattdessen. Ebenso beteiligten sich Bundespolizisten an der Hetzjagd. Dennoch weigert sich die Bundesanwaltschaft, in diese Richtung zu ermitteln. Die Schuld soll bei lokalen Behörden und der Mafia bleiben. Fast 100 Personen wurden bisher festgenommen, darunter 58 Lokalpolizisten sowie der Bürgermeister von Iguala und seine Frau. Es ist offensichtlich, dass die Verantwortung den Präsidenten nicht erreichen darf, der das Land gerade neoliberalen Strukturreformen unterzieht und wegen dubioser Hauskäufe unter Korruptionsverdacht steht.

Eine unscheinbare Straßenecke in Iguala. Zwei Kreuze, ein paar Blumen, jemand hat die Einschlusslöcher in den Wänden rot umrandet. Hier wurden zwei Studenten in der Nacht tot aufgefunden. Eine Menschenrechtlerin aus Iguala ist gekommen, unter Zusicherung von Anonymität. Sie ist mit dem Tod bedroht worden und wird von „Falken“ beschattet: Informanten der Mafia, Taxifahrer, arbeitslose Jugendliche. „Sie sehen uns auch hier“, sagt die junge Frau. Zwei Patrouillen der mexikanischen Bundespolizei fahren vorüber, vordergründig hat sie die Macht in Iguala übernommen. Aber das sei Quatsch, sagt die Aktivistin. „Die Mafia macht, was sie will, die stecken ja zusammen.“

In Iguala herrscht: die Angst. Eine Ärztin wurde entlassen, weil sie verletzten Studenten half. Eine Lehrerin, die Details der Jagd berichtete, wurde angeschossen. Die Aktivistin selbst sah, wie in der fraglichen Nacht Polizeiautos ohne Beleuchtung vor dem Rathaus parkten. Polizisten hätten große Plastiksäcke in das Gebäude geschleppt. Für ihre Aussage interessiert sich niemand.

15 Minuten Fahrt nach Pueblo Viejo, ein Armenviertel am Fuß eines bewaldeten Bergs. Hier suchten die Behörden zunächst nach den 43 Studenten. Stattdessen fanden sie Massengräber mit anderen Menschen, in einem lagen 28 Körper. Die Guerreros Unidos, so kam heraus, nutzten den Berg als Exekutionsort. Er wurde kurz von der Polizei untersucht, nun erzählt ein Straßenverkäufer, dass die Mafia seit wenigen Tagen wieder Menschen nach oben bringe. Vom Staat fehlt jede Spur.