Olympia: Nicht mehr als eine teure Party

Olympia: Nicht mehr als eine teure Party

An einem Sonntag im August in Rio de Janeiro. Man radelt zur Copacabana als fünf Schützenpanzer die Straße blockieren. Aus den Luken ragen Gewehre, die wahllos auf Passanten und Autos gerichtet sind.

Hinter den Waffen erkennt man die Gesichter blutjunger Soldaten. Später an der Copacabana dröhnen mehrere Kampfhubschrauber im Tiefflug über den Strand hinweg; auf dem Wasser kreuzen Kriegsschiffe.

Genau ein Jahr nach den olympischen Spielen ist das Militär mit 10000 Soldaten in Rio de Janeiro eingerückt. Es folgte einem Hilferuf: Die Stadt drohte in Gewalt und Kriminalität zu ersticken, die Polizei hatte die Kontrolle verloren. Wegen der Finanzkrise Rios fehlte ihr sogar das Benzin für Streifenwagen.

Die Zahlen für das laufende Jahr lassen den Horror erahnen: Fast 3000 Morde, 98 getötete Polizisten, mehr als 600 Menschen, die von der Polizei erschossen wurden. Es vergeht kein Tag ohne schwere Schießereien, so dass die Lokalzeitung „Extra“ nun ein neues Ressort gegründet hat: „Krieg in Rio“. Da verblassen fast die 30000 Autodiebstähle oder die alltäglichen Straßenüberfälle.

Ob das Militär an der Situation etwas ändern wird, kann man bezweifeln. Die Armeeführung hat angekündigt, hart gegen die Banden in den Favelas vorzugehen. Es heißt nichts anderes, als dass die arme Bevölkerung wieder einmal am meisten unter den martialischen Maßnahmen leiden wird.

Dabei geht fast unter, dass Rio de Janeiro noch vor einem Jahr die Olympischen Spiele feierte. Aber zum Begehen des Jubiläums ist hier niemandem zumute. Selten ist eine Olympiastadt so schnell von der Euphorie in eine tiefe Depression gestürzt. Auch die Armut ist explodiert. Auf den Straßen Rios erlebt man erschreckende Szenen: Familien, die ihren Hausrat verkaufen. Verzweifelte Senioren, die selbst gebackene Plätzchen für einige Centavos anbieten. Eine Armee von Obdachlosen, die dicht gedrängt auf den Bürgersteigen schläft.

Dabei sollte Olympia die Stadt doch „lebenswerter für alle“ machen. So versprach es einst Ex-Bürgermeister Eduardo Paes. Er sagte voraus, dass die Stadt sicherer würde; Wirtschaft und Sport würden profitieren. Und mit diesen Erwartungen vermarktet ja auch das Internationale Olympischen Komitee (IOK) das Sportereignis. Heute steht fest: Rio 2016 hat sich für eine privilegierte Minderheit gelohnt, also Baukonzerne, Sport-Funktionäre, korrupte Politiker. Für die große Mehrheit der Menschen aber ist nichts geblieben.

Fairerweise muss man sagen, dass die olympischen Spiele 2016 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kamen. Brasilien war gerade in eine tiefe Rezession gerutscht (begleitet von einer Staatskrise), von der besonders der Bundesstaat Rio de Janeiro betroffen war. Olympia bürdete dem Staat nun weitere Kosten auf, obwohl er nicht mal mehr seine Polizisten und Lehrer bezahlen konnte. Die Spiele wirkten da wie eine Frivolität.

„Das IOK und die Politiker müssen endlich ehrlich sein“, sagt Pedro Trengrouse. „Sie müssen aufhören, Olympia als Heilsbringer zu verkaufen.“ Der 38-jährig Trengrouse ist Professor für Sportmanagement und lehrt in Harvard. Er kommt zu dem Schluss: „Olympia ist eine große Party. Der Gastgeber zahlt und räumt auf. Was bleibt, sind schöne Erinnerungen. Nicht mehr.“

Zwar macht Trengrouse die Spiele nicht für die wirtschaftliche Depression Rios verantwortlich – die ökonomische Krise habe tiefere Ursachen, sagt er. Aber er widerspricht auch der Behauptung, dass die Spiele die Infrastruktur Rios verbessert hätten: „Neue Schnellbusse und die Metrolinie waren ohnehin geplant. Nun werden sie als olympisches Erbe verkauft, weil sonst nichts da ist.“

Besuch im Olympiapark an einem Sonnabend. Auf dem riesigen Gelände im wohlhabenden Stadtteil Barra da Tijuca verlieren sich ein paar Jogger und die Besucher eines Kinder-Judoturniers, das in zwei der neun Olympiahallen ausgetragen wird. Es ist die erste Nutzung seit langem. Das Schwimmstadion ganz am Ende des Areals ist hingegen mit Holzplatten verrammelt. Man findet eine Lücke und schlüpft hinein, steht in einer zugigen Halle. Unten im Becken, in dem Michael Phelps seine Goldmedaillen errang, hat sich eine große Wasserlache ausgebreitet. Über die Tribünen haben Spinnen ihre Netze gelegt.

Eigentlich sollte die Arena bereits abgebaut und andernorts wieder aufgebaut sein. Aber bisher hat man lediglich die Beckenwanne nach Manaus geschafft. Auch das Handballstadion gegenüber der Schwimmhalle hätte schon auseinander montiert und in mehrere Schulgebäude verwandelt worden sein sollen. Aber die Pläne stocken.

Verantwortlich für den Olympiapark ist die brasilianische Regierung weil es nicht gelungen ist, private Investoren zu finden. Nun ist unklar, was mit dem Gelände geschehen soll, dessen Instandhaltung jährlich umgerechnet zwölf Millionen Euro kostet. Es fehlen Nutzer für die Arenen, und es ist zu befürchten, dass mehr als eine als Weißer Elefant endet: ein enormer Bau, den die Öffentlichkeit nicht braucht, aber von ihr bezahlt werden muss. Zwölf der insgesamt 27 Olympia-Arenen wurden in den letzten zwölf Monate kein einziges Mal genutzt.

Leerstand herrscht auch im Olympiadorf mit 30 Wohnblocks. Eigentlich hätten die 3600 Athleten-Wohnungen schon verkauft sein sollen. Aber bislang fanden sich nur 250 Interessenten.

Eine schwerer Vorwurf gegen die Organisatoren der Spiele lautete einst, dass das Olympiagelände im Stadtteil Barra da Tijuca nur ausgewählt worden sei, um das reiche Viertel weiter aufzuwerten – etwa mit einem unsinnigen Golfplatz. Das Ganze sei ein Dankeschön des Bürgermeisters Eduardo Paes an die Immobilienfirmen gewesen, die ihm die Wahlkampagne finanzierten. Aber die Herrschaften könnten sich verrechnet haben. Denn in Barra da Tijuca herrscht ein Überangebot an Wohnraum. Und Eduardo Paes ist wegen Korruption angeklagt.

Unter Überkapazitäten leidet auch Rios Tourismusbranche. In Erwartung der Spiele wurden zahlreiche Hotels hochgezogen. Aber jetzt zeigt sich, dass die vielen Hotelbetten gar nicht gebraucht werden. Die Auslastung von Rios Hotels im Ferienmonat Juli betrug 40 Prozent, es schließen Dutzende Hotels und Herbergen, Existenzen stehen vor dem Ruin. Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie Olympia trügerische Erwartungen weckt und falsche Anreize schafft.

Besucht man dieser Tage Sebastião Dias, dann trifft man einen tief frustrierten Mann. Dias, der als Sohn einer Müllsammlerin aufwuchs, hat in jahrelanger Arbeit eine der erfolgreichsten Badminton-Schulen Brasiliens aufgebaut. Sie heißt Miratus und liegt in der Favela Vila Valqueire. Etwa 200 Kinder und Jugendliche aus Armenvierteln werden hier jeden Tag betreut, sie erhalten Mittagessen, Hausaufgabenhilfe und Training.

Mit diesem Konzept ist Miratus so erfolgreich, dass die einzigen beiden Badmintonspieler Brasiliens bei Olympia 2016 von hier kamen; einer war Sebastiãos Sohn Ygor, einer der besten Spieler Südamerikas. Zwar holten die beiden keine Olympiamedaille, aber ihre Teilnahme weckte große Hoffnungen. „Wir waren so euphorisch“, erinnert sich Sebastião Dias. „Wir dachten, wir kriegen endlich Aufmerksamkeit und Förderung vom Staat.“ Tatsächlich macht Miratus ja nicht nur Sport, sondern auch Sozialarbeit: Jugendliche aus Favelas bekommen neue Perspektiven und Erfahrungen. „Sonst landen sie automatisch bei einer Drogengang“, sagt Dias. Er hat das oft beobachtet.

Doch statt Unterstützung erntete Miratus Ignoranz. Noch nie habe sich jemand aus dem Rathaus blicken lassen, sagt Dias. Die Situation sei heute schwieriger als zuvor. Man könne die Spieler nicht mehr zu Turnieren schicken, weil kein Geld für den Transport da sein. Es fehlten Schuhe, Trikots und sogar Federbälle. So wurde auch das Versprechen gebrochen, dass Olympia einen positiven Effekt auf den Breitensport habe.

Als man Dias vor den olympischen Spielen traf, war er ein energiegeladener, zuversichtlicher Mann. Nun, ein Jahr später, ist er still geworden, blickt oft zu Boden. Dann erzählt er, was ihn bei Olympia am meisten schockierte: wie ein Verbandsfunktionär alle ungebrauchten Federbälle stahl. Dabei sei es um einen Wert von 30.000 Euro gegangen, denn olympische Federbälle sind teuer, sie werden mit Gänsefedern hergestellt. Einst war Sebastião Dias beseelt vom olympischen Geist, aber die Realität Olympias hat ihn gebrochen.

Mario Andrada ist von der Episode wenig beeindruckt. „Es ist die typische Korruption bei Olympia“, sagt er und schaut aus seinem Büro im 32. Stockwerk eines Hochhauses im Zentrum von Rio. Während der Spiele hatte Andrada einen der härtesten Jobs. Er war Pressesprecher des Lokalen Organisationskomitees. Immer wenn etwas schief ging, musste er sich den Medien stellen. Und es ging ja einiges schief: Die Quartiere der Athleten waren nicht rechtzeitig fertig. Die Guanabara-Bucht, auf der die Segler starteten, war (und ist) eine Kloake. Andrada machte damals keine schlechte Figur, er wiegelte ab und gelobte Besserung. Was man als Pressesprecher so tut.

Heute ist er müde aber zufrieden. Mit der Übergabe der Olympiastätten an die brasilianische Regierung ist sein Job getan. 35 Millionen Euro Schulden sind am Ende geblieben, eine Summe, die das IOK nicht übernehmen wollte. Andrada spielt sie herunter, es gehe um weniger als zwei Prozent des operativen Gesamtbudgets.

Und die Korruption zwischen Rathaus und Baufirmen? Die sei normal in Brasilien.
Rückblickend sagt Andrada: „Alle wollten diese Spiele: der Präsident, der Bürgermeister, die Bevölkerung.“ Nun solle man sich nicht beschweren.

Sebastião Dias würde ihm wahrscheinlich antworten: „Man hat uns falsche Versprechungen gemacht.“
Und man erinnert sich an Pedro Trengrouses Worte: „Das IOK kann nicht weiter mit Lügen durch die Welt ziehen. Eine informierte Öffentlichkeit akzeptiert Olympia in dieser Form nicht mehr.“