„Wir taumeln nicht mehr Richtung Hölle“

„Wir taumeln nicht mehr Richtung Hölle“

Héctor Abad gilt seit seiner Familiensaga „La Oculta“ als Nachfolger von García Márquez. Sein Vater wurde einst von rechten Paramilitärs ermordet, sein Schwager später von der linken Farc-Guerilla entführt. Dennoch tritt Abad bedingungslos für Aussöhnung ein und verteidigt den Friedensschluss mit der Guerilla. Ein Treffen mit dem Autor in seiner Heimatstadt Medellín.

Héctor Abad sitzt im Glashaus. Die Bibliothek der kolumbianischen Privatuniversität Eafit, die er leitet, wurde nach den Prinzipien Transparenz und Licht errichtet, mit großzügigen Räumen, weiten Flächen und vielen Glasfassaden. Und so hat Abad von seinem Büro im Erdgeschoss einen unverstellten Blick auf den Campus; und die Studenten, die draußen vorbeischlendern, haben freie Sicht auf ihren berühmten Bibliothekschef.

Der 58-Jährige Abad, schlohweißes Haar, grauer Bart, bietet Tee an, ungewöhnlich im Kaffeeland Kolumbien. Umso mehr in der Kaffeestadt Medellín, die in den vergangenen Jahren einen erstaunlichen Modernisierungsprozess durchgemacht hat und heute als eine der hippsten Städte Südamerikas gilt: mit Dutzenden Cafés, Restaurants, neuen Museen, Sprach- und Tanzschulen sowie – natürlich – mit Entdeckungstouren auf den Spuren Pablo Escobars, dem berüchtigtsten und berühmtesten Sohn Medellins. Den Tee erklärt Abad dann damit, dass Nachmittags eben „tea time“ sei. Kaffee sei nur etwas für Müde.

Nicht erst seit seinem seinem großen Familienroman „La Oculta“ (Berenberg-Verlag, 2016) gilt Héctor Abad in seiner Heimat als eine der wichtigsten politischen Stimmen, die trotz allem zu Frieden, Versöhnung und Erinnerung aufruft. Abad moderiert Radiosendungen und schreibt regelmäßig eine engagierte und politische Kolumne in der Medelliner Tageszeitung „El Espectador“, dem zweitgrößten Blatt Kolumbiens. Der „Espectador“ ist nicht irgendeine Zeitung: In den Fünfzigerjahren begann der spätere Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez hier seine Karriere. 1986 wurde der damalige Direktor der Zeitung von einem Auftragskiller Pablo Escobars erschossen. 1989 ließ Escobar dann eine Bombe vor dem Redaktionsgebäude hochgehen.

Die Gewalt, sie hat Kolumbien im vergangenen halben Jahrhundert geprägt, und Héctor Abad sagt gleich zu Anfang, dass die brutale und komplexe Geschichte seines Landes wohl nur als Familiengeschichte zu erzählen sei. Denn wie sonst wolle man einem Bürgerkrieg beikommen, der Hunderttausende das Leben gekostet hat und vier Millionen Flüchtlinge produzierte? In dem Tausende Menschen entführt und gefoltert wurden. In dem der Staat gemeinsame Sache mit rechten Paramilitärs machte. In dem gleich mehrere linke Guerillagruppen, die USA und verschiedene Drogenkartelle entscheidende Rollen spielten. „Durch die Familiensaga kann ich der facettenreichen Geschichte Kolumbiens Gesichter gegeben“, sagt Abad. „Nur so kann ich das Leid, das Glück, die Absurdität anschaulich machen.“

Er fügt hinzu, dass diese Geschichte der Gewalt nun endlich eine Zäsur erlebe. Er meint den Friedensvertrag, den Kolumbiens Präsident Manuel Santos nach langen Verhandlungen mit der marxistischen Farc-Guerilla ausgehandelt hat. Der Vertrag wurde von den Kolumbianern zwar zunächst in einem Referendum knapp abgelehnt, aber nach einigen Modifikationen vom kolumbianischen Kongress auf Drängen von Santos ratifiziert. Héctor Abad fand Santos’ Eile richtig, er befürwortete das Abkommen von Anfang an.

Nun wird es Wirklichkeit: Rund 7000 Farc-Kämpfer ziehen in diesen Tagen auf ihrem letzten Marsch in die eigens eingerichtete Friedenscamps, wo sie ihre Waffen abgeben. Die Demobilisierung der ältesten und schlagkräftigsten Guerilla Lateinamerikas scheint bisher zu klappen – wenn man von organisatorischen Schwächen und einigen abtrünnigen Farc-Kämpfern absieht.

Dennoch wird das Abkommen von der extremen Rechten Kolumbiens um Ex-Präsident Àlvaro Uribe weiterhin bekämpft. Ihnen gehen die Zugeständnisse an die Guerilla zu weit gingen. Aber Héctor Abad widerspricht vehement, er hält den Friedensprozess für einen „außerordentlichen, einen wunderbaren, einen historischen Vorgang“. Der Guerilla werde viel mehr abverlangt als seinerseits den rechten Paramilitärs. „Wir kämpfen immer noch darum, der Hölle zu entkommen. Aber wir entfernen uns von ihr und laufen nicht mehr auf sie zu.“

In gewisser Weise ist Abads letzter Roman somit auch ein Rückblick auf ein Land, das begonnen hat, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Mittelpunkt ist die titelgebende Finca La Oculta (die Verborgene) bei dem Andenort Jericó, der auf rund 2000 Metern in der fruchtbaren Region Antioquia liegt. Um die Finca herum entspinnt Abad die Familienstory zweier grundverschiedener Schwestern und ihres schwulen Bruders, wobei er weit in die Geschichte Kolumbiens zurückgreift, Episoden von Paramilitärs und Guerilla ausgräbt, vieles davon ist autobiographisch.

Aber natürlich nicht alles: In seinem Büro freut Abad sich darüber, dass er zwei Frauen und einen Schwulen zu Finca-Inhabern gemacht hat, denn das entspreche so gar nicht den Vorstellungen, die man in Kolumbien immer noch von Landbesitzern habe. Tatsächlich bleibt einem, besucht man die Bergregion um Jericó, besonders ein Bild im Gedächtnis haften: die vielen Männer mit Cowboyhüten und Karohemden, mit Viehstricken und Stiefeln, die an den Wochenenden die Dorfplätze und Bars rauchend und trinkend bevölkern. Unbegleitete Frauen sieht man fast keine.

Ein weiterer Protagonist des Romans aber ist La Oculta selbst, das Anwesen der Familie Angel. Die Frage des Bodens und seiner Verteilung, erläutert Abad, sei in Kolumbien immer noch unbeantwortet. Es herrsche nach wie vor eine riesige Ungerechtigkeit. „Es gibt Dörfer in Kolumbien“, sagt Abad, „da ist kein Platz für einen Sportanlage weil einem Großgrundbesitzer alles Land gehört. Dort grasen dann Rinder.“ Wenn man versuche daran etwas zu ändern, müsse man um sein Leben fürchten. Der Staat, sagt Abad, sei zwar in den Städten präsent, aber nicht auf dem Land.

Vielleicht ist deshalb der neue kolumbianische Frieden zwar die Abwesenheit von Krieg aber nicht der Bedingungen, die ihn auslösten. Nur daran, das man die ungerechten Verhältnisse mit Waffen ändern könne, glaubt Abad nicht. Denn Gewalt, so habe die Geschichte bewiesen, führe nur zu mehr Gewalt. Es würde ja schon viel ändern, glaubt Abad, wenn die Großgrundbesitzer endlich gezwungen würden, angemessene Grundsteuern zu zahlen.

Es ist dieser Pragmatismus, der Abad von den ideologisch geprägten Autoren des lateinamerikanischen Booms, der Vorgängergeneration, unterscheidet. Zu ihnen zählte der bis heute bekannteste kolumbianische Autor, Gabriel García Márquez. Bis zuletzt war García Márquez ein großer Freund der kubanischen Revolution und ihres Maximo Lider, Fidel Castro. Nun sind beide tot. Die Literatur und die Politik Lateinamerikas, sie sind nüchterner geworden. Weniger Magie, mehr Realismus. Auch bei Héctor Abad.
Sein Roman „La Oculta“ wird nun als die zeitgenössische und postideologische Fortsetzung von „Hundert Jahre Einsamkeit“ bezeichnet. Abad selbst möchte „La Oculta“ zwar als realistisches Buch verstanden wissen. Dennoch liege ihm eine idealistische Haltung zugrunde, betont er.

Das Bild, das er etwa von dem Ort Jericó und seiner gleichmäßigen Bodenverteilung zeichne, sei geschönt. Aber er wollte ein positives Beispiel dafür geben, wie die Dinge sein könnten. Und siehe da: Vor wenigen Tagen, berichtet Abad, habe ihn ein Unternehmen angerufen, das eine große Hacienda in der Gegend um Jericó besitzt. Ein Manager der Firma habe sein Buch gelesen und entschieden, die Hacienda einer Bauernkooperative zur Verfügung zu stellen anstatt eine große Ölpalmenplantage anzulegen.

Für seinen liberalen, in der Logik des Kapitalismus stehenden Ansatz wird Abad häufig von der Linken kritisiert. Die Rechte hingegen verabscheut ihn für sein „Ja“ zum Friedensvertrag mit der Farc-Guerilla. Abad erzählt dann gerne die Geschichte seines Vaters. Der war ein bekannter Arzt und Menschenrechtsaktivist und wurde 1987 auf offener Straße in Medellín von Paramilitärs erschossen. Der Mörder und seine Hintermänner sind bis heute nicht ermittelt worden.

Zwei Schwarzweißfotos existieren von dieser Nacht. Eines zeigt den jungen Héctor Abad neben der Leiche seines Vaters kniend, er schreit und ballt die Fäuste. Auf dem zweiten, etwas später aufgenommenen Bild hockt er nachdenklich da, den Blick in die Ferne gerichtet. Hinter ihm weint seine Mutter um ihren Mann. Kurz darauf erhalt auch Héctor Abad Morddrohungen und geht ins Exil nach Italien. Dort ist er kein Fremder, hatte er doch in Turin seinen Doktor in Literatur gemacht und verschiedene italienische Autoren ins Spanische übersetzt: Umberto Eco, Italo Calvino, Tomasi di Lampedusa, Primo Levi.

Den Schmerz über den Verlust seines Vater empfindet Abad bis heute. Und dennoch war er bereit, 2004 den Demobilisierungsprozess zu unterstützen, den die rechten Paramilitärs mit dem damaligen Präsidenten Àlvaro Uribe ausmachten. Das Abkommen wurde von Menschenrechtsgruppen scharf kritisiert, weil Uribe den Paramilitärs praktisch Straffreiheit garantierte, obwohl sie Tausende Menschen ermordet hatten.
Aber Abad sagt, dass es oft keinen anderen Weg zum Frieden gebe, als den des Zugeständnisses. Und dass er nie auf Rache aus gewesen sei. „Es wäre viel wichtiger für mich, zu erfahren, wer meinen Vater erschossen hat. Und wer die Auftraggeber waren.“ Es würde helfen, den Schmerz zu lindern, ihn mit Würde zu ertragen. Ob die Mörder dann ins Gefängnis müssten, sei ihm eher egal.

Und so wie er damals für das Abkommen mit den rechten Paramilitärs war, verteidigt Abad nun den Friedensvertrag mit der linken Farc-Guerilla. Dabei war seine Familie – eine sehr kolumbianische Familie – auch Ziel der Guerilla. Abads Schwager, ein Rinderzüchter, wurde von den Farc entführt und musste nach seiner Freilassung eine Revolutionssteuer zahlen. Er gehörte zu denjenigen, die beim Referendum über den Friedensvertrag mit „Nein“ stimmten. Abad fragte ihn: „Aber was soll denn die Alternative sein?“

Den Schock über den brutalen Verlust seines Vaters hat Héctor Abad Jahre später in ein Buch verwandelt. Es hieß „Brief an einen Schatten“, erschien 2012 und ist die zärtliche Erinnerung an einen Mann, der Kolumbien aus der Logik eines Jahrzehnte dauernden Bürgerkriegs führen wollte.

Nun hat Abad die Rolle seines Vaters übernommen: schreibend, redend, diskutierend. Deswegen sei auch so schnell kein neuer Roman von ihm zu erwarten, sagt er. „In Kolumbien komme ich nicht zum Schreiben. Hier ist gerade zu vieles in Bewegung.“