„Der Irakkrieg ist ein Riesengeschäft“ – Naomi Klein

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„Der Irakkrieg ist ein Riesengeschäft“ – Naomi Klein

Naomi Klein, Jahrgang 1970, gelang mit ihrem ersten Buch „No Logo!“ ein Welterfolg. Die Kanadierin attackierte Marken wie Nike, traf damit das Lebensgefühl vieler Globalisierungskritiker. Neu ist „Die Schock-Strategie“ (Verlag S. Fischer), eine umfangreiche Recherche über die Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik. Wenn Flutwellen, Terror oder Krieg die Menschen erschüttern, schlägt die Stunde der Neoliberalen, sagt sie.

Mrs. Klein, für die Zeitschrift „Neon“ sind Sie die „Mutter der Antiglobalisierungsbewegung“ …

… ich als Mutter?! …

… und die „New York Times“ nannte Ihr erstes Buch „No Logo!“ sogar die „Bibel der Bewegung“.

Wenn die Presse außer Kontrolle gerät, bin ich nicht dafür verantwortlich.

Das Lob macht Sie nicht stolz?

Nein. Die Einzigen, die sich darum scheren, welche Kleider Naomi Klein trägt oder welchen Kaffee sie trinkt, sind Journalisten. Der Bewegung ist das egal. Es scheint einigen besonderen Spaß zu machen, mich als Marke zu bezeichnen, weil ich „No Logo!“ geschrieben habe. Sehr witzig.

Der britische „Observer“ bezeichnete „No Logo!“ als „das neue ,Kapital‘“. Wenn Sie schon der neue Marx sind: Haben Sie viel von ihm gelesen?

Warum stellen Sie mir diese Frage? Jeder, der über Ökonomie schreibt, sollte Karl Marx gelesen haben. Aber das „Kapital“ hat mir nicht gefallen, ich mochte das „Manifest“ lieber.

Sie vergleichen in „Schock-Strategie“ Ökonomie und Folter. Wie sind Sie darauf gekommen?

Als ich im Irak recherchierte, um zu verstehen, wie der Umbau des Landes durch die US-Verwaltung funktioniert. Dann stieß ich auf Verhörprotokolle der CIA. Da war von einem „Fenster der Gelegenheit“ die Rede, das sich bei Gefolterten öffne. Wenn dieser Punkt erreicht sei, gleite der Gefangene in einen Zustand der Lähmung ab und könne seine Interessen nicht mehr verteidigen. Das ist eine gute Beschreibung für den Zustand, in dem sich der Irak nach dem Einmarsch der US-Truppen befand. Der Stellvertreter von Außenminister Colin Powell erklärte, die Iraker sollten so geschockt sein von der „Shock and Awe Invasion“, dass sie – und das sind seine Worte – „leichter von A nach B beordert“ werden könnten.

Und das klappte?

Im Frühjahr 2003, Bagdad brannte noch, erklärte der US-Zivilverwalter Paul Bremer den Irak „open for business“, konkret hieß das: ungeregelter Freihandel. Streiks wurden verboten, die Gewerkschaften eingeschränkt. Dann wurden 500 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen …

… weil man den Staat von Parteigängern Saddam Husseins säubern wollte.

Man feuerte alle: Ingenieure, Experten, kleine Beamte. Die US-Regierung war der Ansicht, der öffentliche Sektor solle im Irak keine Rolle mehr spielen. Die dramatischste Entscheidung war Order 39: So gut wie alle 200 staatlichen Fabriken wurden privatisiert. Ausländische Unternehmen durften 100 Prozent eines Unternehmens kaufen und 100 Prozent der Profite wieder aus dem Irak holen. Der Irak war freigegeben zur Plünderung.

Rasch zu handeln, rät schon Machiavelli …

… und dies geht am besten bei einem Volk im Zustand der Desorientierung. Die Iraker waren mit anderem beschäftigt: an sauberes Wasser zu kommen, es gab selten Strom, sie machten sich Sorgen um ihre Familie.

Im Irak bekämpfen sich heute Sunniten und Schiiten blutig. Sie behaupten im Buch, der Bürgerkrieg hätte keine religiösen Ursachen.

Fakt ist doch: Durch die Entlassungen und den Ausverkauf Iraks wurden die Bedingungen geschaffen, die den Fundamentalisten Zulauf bescheren. Sie übernahmen die Funktionen des Staates und errichteten soziale Netze.

Sie sind gut ein Jahr nach dem Sturz Saddams im Irak gereist. Hatten Sie Bodyguards dabei?

Nein. Ich war fünf Wochen mit einem Übersetzer unterwegs, ich konnte mich recht frei bewegen, Ich habe viel Zeit in Fabriken verbracht, ich sprach mit Geschäftsleuten und Arbeitern, die meisten waren wütend über die neuen Gesetze.

Haben Sie brenzlige Situationen erlebt?

Ich war gerade angekommen, als die Fenster meines Hotelzimmers platzten, man sah einen glutroten Feuerball, und die Luft im Zimmer wurde von der Hitze nach draußen gesogen. Eine 500-Kilo-Bombe hatte mehrere Häuser in Trümmer gelegt. Ich rannte in Strümpfen nach unten. Erstaunlicherweise blieben die Iraker, die im Hotel arbeiteten, völlig gleichgültig, sie schauten Fußball. Die Iraker stehen so unter Schock, dass sie nichts mehr schockt.

Ihr Buch heißt ja auch „Die Schock-Strategie“. Was verstehen Sie darunter?

Wenn Momente kollektiver traumatischer Erfahrungen genutzt werden, um eine Gesellschaft radikal nach neoliberalem Vorbild umzubauen. So ein Moment kann ein Krieg sein, eine politische Krise, eine Naturkatastrophe. Das Muster ist stets das gleiche: Mit einem Schlag wird das öffentliche Eigentum verkauft und der Sozialstaat so gut wie abgeschafft. Als Ergebnis wird Reichtum von unten nach oben verteilt. Die bürgerliche Geschichtsschreibung behauptet, freier Markt und Demokratie gingen Hand in Hand. In Wahrheit war Gewalt stets der Geburtshelfer des Neoliberalismus.

Sie vergleichen den neoliberalen Kapitalismus sogar mit Elektroschockexperimenten an Kranken.

Das ist nicht meine Metapher. Milton Friedman, der Vordenker des Neoliberalismus, schrieb nach dem Militärputsch 1973 an Pinochet, er müsse Chile einer „Schocktherapie“ unterziehen.

Chile gilt heute vielen als Beispiel für den Erfolg neoliberaler Politik. Das Land ist politisch stabil und hat eine wachsende Wirtschaft.

Am Ende von Pinochets Herrschaft lebten 45 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze und das Einkommen der Reichsten war um 83 Prozent gestiegen. Heute liegt Chile laut UN von 123 Ländern auf Platz 116, wenn es um die gerechte Verteilung von Wohlstand geht. Aber Friedmans Anhänger sitzen immer noch in Regierungen, internationalen Finanzinstitutionen und den Medien und behaupten, das Land sei eine Erfolgsstory.

Halten Sie Neoliberale ernsthaft für Folterknechte?

Es ist die Strategie des Folterknechts, die Persönlichkeit eines Häftlings zu brechen, damit er nicht mehr in der Lage ist, seine Interessen zu schützen. Die Neoliberalen wissen genau, dass ihre fundamentalistischen Vorschläge demokratisch nicht durchsetzbar sind. Also warten auch sie auf Momente, in denen Gesellschaften gelähmt sind. Dann verordnen sie ihre Rezepte alle auf einmal.

Haben Sie Beispiele für diese Behauptung?

In Chile und Argentinien geschah das in den 70er Jahren nach Militärputschen, in Bolivien in den 80ern, in England nach dem Falklandkrieg. Polen, Südafrika und Russland wurden in den 90ern geschockt. Zuletzt konnte man diese Strategie in New Orleans nach dem Hurrikan „Katrina“ beobachten und im Irak gleich nach Kriegsbeginn.

Bush zog mit der Begründung in den Krieg, er wolle einen Diktator beseitigen. Sie sagen, es ging um die Einrichtung eines Wirtschaftsmodells?

Ich glaube, der Irak wurde angegriffen, weil Vizepräsident Dick Cheney der Welt sagen wollte: Wenn ihr euch mit uns anlegt, treten wir euch in den Arsch! Doch als die Entscheidung zur Invasion getroffen war, ging es um den Ausverkauf Iraks.

463 Milliarden Dollar hat der Krieg die USA bislang gekostet. Sie werfen der Bush-Regierung persönliche Bereicherung vor.

Diese Politiker sind auch Geschäftsleute, die mit Produkten Geld verdienen, für die in Kriegs- und Katastrophenfällen Bedarf besteht. Dick Cheney und seine Frau sind Unternehmen verbunden, die zentrale Aufgaben des Staates übernommen haben. Sie haben massiv von der Privatisierung des Krieges profitiert. In den USA haben wir inzwischen einen Staat, der nur noch Staat spielt. Er hat Fahnen, Siegel und Gebäude, er hält Pressekonferenzen ab. Doch wenn man den Vorhang wegzieht, ist da niemand. Alles ist verkauft worden. 2003 unterschrieb die US-Regierung 3512 Verträge mit Privatfirmen, die Sicherheitsaufgaben übernahmen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre gab es 115 000 solcher Verträge. Die Sicherheitsindustrie, die es vor dem 11. September quasi nicht gab, ist heute ein 200-Milliarden-Geschäft. Ich nenne sie den Katastrophen-Kapitalismus-Komplex. Er besorgt alles: Söldnerarmeen, Versorgung der US-Truppen, Überwachungstechnologie. Allein das Unternehmen Halliburton hat 20 Milliarden Dollar durch den Irakkrieg eingenommen.

Cheney war in den 90ern Chef von Halliburton …

… und bei Amtsantritt besaß er 189 000 Aktien und 500 000 Optionen. Der Kurs einer Halliburton-Aktie stieg von zehn Dollar vor dem Krieg auf 41 Dollar drei Jahre danach. Wirtschaftlich ist der Irakkrieg ein gigantisches Geschäft. Schauen Sie sich die Zahlen an: Zu Beginn gab es im Irak einen privaten Auftragnehmer pro zehn US-Soldaten, heute kommen 180 000 auf 170 000 Soldaten.

Öffentlich bekannt wurde vor allem das Unternehmen Blackwater, als seine Söldner im September 17 Iraker in Bagdad erschossen.

Blackwater gehört Erik Prince, einem rechtsgerichteten Christen. Ursprünglich sollte er ein paar Bodyguards für Paul Bremer stellen, nun hat er 1000 Mann im Irak, die an Feuergefechten beteiligt sind. 30 000 Dollar verdient so ein Söldner im Monat. Bis heute hat dieser Krieg 460 Milliarden Dollar gekostet, und es heißt, dass von jedem Dollar 40 Cent an private Unternehmen gehen. Über diese Parallelökonomie hat es nie eine Debatte gegeben. Der Schock des 11. September wurde genutzt, die Privatisierungen durchzudrücken. Wissen Sie, wer den Untersuchungsbericht über den Blackwater-Vorfall in Bagdad schrieb?

Nein.

Blackwater selbst. Das Schreiben von Untersuchungsberichten ist von der Bush-Regierung ebenfalls ausgelagert worden.

Sie erwähnten vorhin auch New Orleans als Beispiel für die Schockstrategie. Was kann der Neoliberalismus für einen Hurrikan?

Gehen Sie mal nach New Orleans und sagen: Als der Hurrikan die Stadt traf und sie überflutete. Da werden die Leute richtig sauer. Denn es war nicht der Hurrikan – ein Damm war gebrochen. Als „Katrina“ auf New Orleans traf, war das nur noch ein Hurrikan der Kategorie 1. Das reichte aus, um Dämme zum Einbruch zu bringen!

Unterstellen Sie politische Absicht?

Es gehört zur neoliberalen Ideologie, öffentliches Eigentum systematisch zu vernachlässigen. Die Infrastruktur in den USA ist verrottet. Die American Society of Civil Engineers schätzt, dass es 1,5 Billionen Dollar kosten würde, um Straßen, Brücken und Dämme in einen akzeptablen Zustand zu bringen. Ja, New Orleans wurde von einem schweren Unwetter getroffen – aber die US-Katastrophenschutzbehörde hatte einer Privatfirma den Auftrag gegeben, die Stadt auf einen Hurrikan vorzubereiten. Nur wusste die Stadtverwaltung nichts davon. So hat der Staat in seiner zentralsten Aufgabe versagt: für Menschen in einer Notsituation zu sorgen. Nicht zufällig traf es eine arme, meist von Schwarzen bewohnte Stadt. New Orleans ist heute ein Experimentierfeld der Rechten.

Inwiefern?

Sie führten ein neues, privates Schulsystem ein – sogenannte Charter Schools sind schon lange eines ihrer Lieblingsprojekte. Vor „Katrina“ hatte New Orleans 123 öffentliche Schulen, jetzt noch vier. 4500 Lehrer: entlassen. Ihre Gewerkschaft: weg.

Was ist schlecht an privaten Schulen?

Die Frage ist, ob man an demokratische Prozesse glaubt oder nicht. Hätten sich die Menschen von New Orleans in einer Abstimmung für private Schulen ausgesprochen, okay. Doch es ist nicht okay, wenn die Regierung einen Moment ausnutzt, in dem Schüler, Eltern und Lehrer fliehen und auf 50 Staaten verteilt sind, während zu Hause die soziale Architektur der Stadt radikal umgebaut wird. Es wird ein Zwei-Klassen-Schulsystem errichtet, eins für Reiche und eins für Arme. Konservative Stiftungen wie die von Laura Bush pumpen eine Menge Geld in New Orleans Privatschulen, damit diese bei Evaluierungen bessere Ergebnisse erzielen. Ich wette, in einigen Jahre gibt es Studien, die beweisen, New Orleans sei das perfekte Modell für die ganzen USA.

Sie selbst hatten einen Unfall, als Sie wenige Tage nach dem Hurrikan New Orleans besuchten.

Wir verirrten uns, die Straßen waren überschwemmt, Schilder fehlten, da krachten wir mit einem anderen Auto zusammen. Ich hatte Splitter im Nacken und wurde ohnmächtig. Ich bedauere, darüber geschrieben zu haben, denn nun wird mir von der Presse vorgeworfen, dass ich in eine Privatklinik eingeliefert wurde. Ich war bewusstlos!

Warum wurden Sie in die Privatklinik gebracht?

Weil ich weiß bin. Es gibt diese rassistische Auslese. Und weil die öffentlichen Krankenhäuser überfüllt oder geschlossen waren.

Politisch werden Sie sehr unterschiedlich verortet. Für die einen sind Sie eine linke Keynesianerin, für die radikale Linke träumen Sie von einem romantischen Kapitalismus.

Dieses Buch ist kein Manifest. Ich schreibe nicht davon, wie die Welt zu sein hätte. Mit einer Ausnahme: Ich glaube, Menschen sollten über ihre Zukunft selbst bestimmen können. Ich bin kein Guru, ich dokumentiere, ich bin Reporterin.

Nach Ihrem Buch „No Logo!“ gab es Massenproteste gegen Nike, Jugendliche warfen Schuhe und Kleidung weg. Ihr neuer Gegner erscheint gesichtsloser und mächtiger.

Sie können sich doch gegen die Privatisierung der Eisenbahn in Deutschland engagieren.

Für Linke wie Sie gibt es in den USA eine hübsche Formulierung: She was born in red diapers, in roten Windeln geboren werden. Ihre Eltern zogen aus Protest gegen den Vietnamkrieg nach Kanada. Und Ihre Großeltern …

… waren amerikanische Marxisten. Mein Großvater war in den 50er Jahren Comiczeichner bei Disney. Er hat dort den ersten Streik organisiert, wurde gefeuert und auf eine schwarze Liste gesetzt. Er durfte nicht mehr in Hollywood arbeiten. Meine Großeltern lebten später in einem selbst gebauten Haus in den Wäldern New Jerseys. Es war toll, sie als Kind zu besuchen. Doch vielleicht können wir die Homestory abschließen. Würden Sie einen Mann, der gerade ein Buch von 700 Seiten geschrieben hat, auch nach seiner Pubertät fragen?

Warum nicht? Es ist interessant, zu erfahren, wie jemand zu dem wurde, der er oder sie ist.

Ich verstehe das. Aber ich werde so oft von der Presse infantilisiert, und das ist auch gegen mich als Frau gerichtet. Daran nehme ich nicht mehr teil. Das ist ein gutes Zitat, Sie sollten es drucken.

– Interview mit Norbert Thomma.