„Bolsonaro will unseren Tod“

„Bolsonaro will unseren Tod“

Alessandra Munduruku spricht über eine wackelige Telefonverbindung. „Es ist, als ob wir aufgefressen würden“, sagt sie aus ihrem Dorf im Amazonasbecken.

„Das Coronavirus hat alles gestoppt. Nur die Holzfäller, Goldgräber und Viehzüchter machen weiter wie zuvor.“

Die 36-Jährige ist Sprecherin der Munduruku, einer indigenen Gruppe in Brasiliens Bundesstaat Pará. Dieser führt jedes Jahr aufs Neue die traurige Statistik der landesweiten Abholzung sowie der Invasionen indigener Territorien durch Goldgräber und Viehzüchter an. Besonders betroffen sind die Reservate der rund 14.000 Munduruku, die sich entlang des südlichen Amazonaszuflusses Rio Tapajós erstrecken.

An den Ufern des mächtigen Stroms liegt auch die kleine Gemeinde Praia do Indío, die Heimat Alessandra Mundurukus, die wie viele Indigene den Namen ihres Volks trägt. Nun hat das Coronavirus die Munduruku erreicht, es gibt Infizierte und die ersten Toten. „Covid-19 ist eine weitere Plage für uns“, sagt Alessandra Munduruku. „Wir wissen nicht, was schlimmer ist: die Krankheit oder die Angriffe auf unsere Territorien.“

Derzeit verbreitet sich das Coronavirus unter Brasiliens Ureinwohner rapide. Ende Mai zählte der „Verband der Indigenen Völker Brasiliens“ (Apib) fast 2000 Infizierte und 200 Covid-19-Tote. Die Sterberate der Indigenen ist damit fast doppelt so hoch wie die der restlichen Bevölkerung.

Circa 80 der 305 verschiedenen indigenen Gemeinschaften Brasiliens sind vom Virus betroffen. Besonders beunruhigend: Auch aus dem Vale do Javari werden die ersten Fälle gemeldet. Es ist das zweitgrößte Indigenenreservat des Landes und beherbergt rund zwanzig immer noch isoliert lebende Gemeinden, die teils nur aus wenigen Dutzend Menschen bestehen. Brasiliens Staatsanwaltschaft warnt vor einem „Genozid“, sollte das Coronavirus sie erreichen, etwa über illegale Holzfäller, Tierschmuggler oder Goldgräber.

„Es fehlt in den meisten indigenen Gemeinden an Tests, Medikamenten, Personal und Schutzmaterial wie Masken“, berichtet Alessandra Munduruku. Viele fürchteten nun, ihre Dörfer zu verlassen. „Damit schwächt die Krankheit unseren Kampf um unser Land enorm. Widerstand wäre zurzeit wichtiger denn je.“

Tatsächlich findet im Schatten der Coronapandemie eine regelrechte Attacke auf den Amazonaswald statt. Die Abholzung stieg in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 51 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im April verzeichnete sie einen Sprung um 171 Prozent. Laut dem Weltrauminstitut Inpe ist dies der stärkste Anstieg der letzten zehn Jahre. Besonders betroffen von der Entwaldung: die „Terras Indígenas“, die indigenen Territorien.

Auf den Fersen der Holzfäller folgen meist Goldgräber und Viehzüchter. Sie machen von einer Taktik Gebrauch, die Brasiliens Umweltminister Ricardo Salles empfiehlt. Salles wird von Umweltgruppen als Anti-Minister bezeichnet, weil er wenig für den Schutz der Umwelt aber viel für ihre Ausbeutung tue. Er sage während einer öffentlich gewordenen Kabinettssitzung Ende April, dass man Fakten schaffe solle, solange die Öffentlichkeit von der Coronakrise abgelenkt sei. Er schlug vor, umstrittene Gesetzesvorhaben durchzubringen, etwa eine Amnestie für Landräuber im Amazonasbecken.

„Unsere Gegner haben keine Corona-Pause eingelegt“, sagt Alessandra Munduruku. Auch ihre Heimat, Praia do Indio, ist vom Vorrücken der Weißen bedroht, weil die Stadt Itaituba immer näher an das indigene Dorf mit 125 Einwohnern herangerückt ist. Itaituba wurde in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Soja-Verladehafen Brasiliens und wuchs enorm. „Wir leben immer bedrängter“, sagt Munduruku. „Wir haben keine Möglichkeiten mehr, zu jagen oder Früchte zu sammeln, weil der Wald verschwindet.“ Auch das Fischen auf dem Rio Tapajós sei nicht mehr möglich, weil dort die riesigen Schubverbände der Sojakonzerne navigierten.

„Wir sind nun gezwungen, in Itaituba zu arbeiten, um Geld zu verdienen“, sagt Alessandra Munduruku. „Auch während der Pandemie.“ Der Verlust ihres Lands bringt die Indigenen somit in das selbe Dilemma wie Millionen andere Arme: Sollen sie sich isolieren und Hunger leiden – oder sollen sie arbeiten gehen und Gefahr laufen, sich anzustecken?

„Das Virus unterstreicht die große Verwundbarkeit der Ureinwohner“, sagt Elaíze Farias. Sie ist Redakteurin der Internetseite „Amazonia Real“ und gehört selbst zum Volk der Sateré-Mawé. Das Virus ist für Brasiliens Indigene einerseits so gefährlich, weil viele ihrer Gemeinden geografisch isoliert sind – sie liegen durchschnittlich 315 Kilometer vom nächsten Gesundheitsposten entfernt.

Viel gravierender aber sei, so Farias, dass der Staat den Indigenen essentielle Leistungen verweigere. So bleibe der eigens für die Ureinwohner zuständige Gesundheitsdienst selbst in der Coronakrise sträflich unterfinanziert. Im April wurde bekannt, dass die Indio-Behörde Funai umgerechnet zwei Millionen Euro zur Bekämpfung der Pandemie wochenlang nicht weiterleitete, sondern neue Fahrzeuge kaufte.

Alessandra Munduruku macht für solche Vorgänge auch den Rassismus der Regierung des rechtsextremistischen Präsidenten Jair Bolsonaro verantwortlich. Er hat die Führungsposten wichtiger Behörden nicht nach Kompetenz sondern nach ideologischer Linientreue besetzt. Der Chef der Funai nun ist ein Polizeikommissar, der der Agrarindustrie nahe steht, aber keine Erfahrung mit indigenen Gesellschaften hat. „Bolsonaro will unseren Tod“, sagt Alessandra Munduruku.

Für die Journalistin Eláize Farias weckt die Corona-Pandemie ein historisches Trauma. Seit der Kolonisation hätten Krankheiten wie die Masern die Ureinwohner immer wieder dezimiert und manche Völker ausgelöscht. Covid-19 ließe diese Alpträume wiederkehren.

Viele Gemeinschaften greifen nun zur Selbsthilfe – so etwa die 12000 Mura im Bundesstaat Amazonas: „Sie haben ihre Dörfer komplett isoliert“, berichtet Edina Epitarelli vom Indigenen Missionsrat der katholischen Kirche (Cimi), die die Mura in ihrem Kampf gegen das Vordringen von Büffelzüchtern begleitet. „Die Mura haben Ketten über die Zufahrtswege zu ihren Dörfern gespannt und die Flussläufe mit Baumstämmen blockiert“, berichtet sie. So konnten sie das Virus bisher fernhalten.

Allerdings sei nicht klar, wie lange die Isolierung aufrecht erhalten werden könne, weil es den Mura an Lebensmitteln fehle. Sie hofften nun auf Spenden durch NGOs, die Kirchen und die Zivilgesellschaft, sagt Epitarelli. In verschiedene anderen indigenen Gemeinden im Amazonasbecken verhindern allein diese den Ausbruch von Hunger. Vom Staat erwarten die Ureinwohner keine Hilfe mehr. „Wir sind praktisch auf uns allein gestellt“, sagt Alessandra Munduruku.