Jesus Christus, Favelabewohner

Jesus Christus, Favelabewohner

Durch die weiten Hallen dröhnen Hammerschläge, man sieht Handwerker beim Schweißen, riesige Metallskelette werden mit glitzerndem Stoff überzogen. Die letzten Vorbereitungen für Rio de Janeiros großen Karnevalsumzug laufen in der sogenannten Samba-Stadt, sie besteht aus enormen Werkhallen mit angeschlossenen Nähereien.

Foto: Mangueira

Zwölf Sambaschulen konkurrieren an diesem Wochenende in Rios Sambodrom um den begehrten Titel als bester Karnevalsverein. Aber nur eine von ihnen dominiert bisher die Schlagzeilen. Sie heißt Mangueira und ist eine der beliebtesten Sambaschulen Brasiliens, ihre Heimat ist die gleichnamige Favela auf einem Hügel in Sichtweite des Maracanã-Stadions, ihre Farben sind grün und rosa. Schon mehrfach hat die Mangueira in den vergangenen Jahren für Kontroversen gesorgt, die Sambaschule gilt als mutig und aufmüpfig. Aber in diesem Jahr gibt es nun sogar Boykottaufrufe gegen sie und Unterschriftenlisten radikaler Christen, die ihren Umzug am verhindern möchten.

Beim Blick in die Mangueira-Produktionshalle wird schnell klar, warum. Die Angestellten tragen T-Shirts mit einer Christus-Figur. Aber es ist nicht der weiße Christus der europäischen Ikonographie, den man für gewöhnlich kennt, sondern eine Collage aus mehreren Figuren. Dieser Christus ist schwarz, weiß und indigen. Er hat krauses Haar, eine afrikanische Gesichtshälfte und die eines Indios mit Bemalungen. Er ist das diesjährige Thema des Mangueira-Umzugs.

Unter dem Bibelvers „Die Wahrheit wird euch frei machen“ aus dem Johannes-Evangelium wird die Sambaschule durchs Sambodrom ziehen. Im Lauf der 80-minütigen Parade wird Jesus von verschiedenen Personen aller Hautfarben und sozialen Ränge dargestellt. Von Schwarzen, Weißen, Indigenen. Die Maria Magdalena wird in die Regenbogenfahne der LGBT-Gemeinde gehüllt sein. Eine schwarze Frau wird, so viel weiß man schon, die Heilige Maria der Schmerzen darstellen. Sie wird eine Brasilienfahne tragen, auf der es heißt: „Mörderstaat“. Es ist eine Anspielung auf die Hunderten Schwarzen, die jedes Jahr in den Favelas durch Polizeikugeln sterben. Im Samba-Song der Mangueira heißt es: „Ich bin von der Sambaschule Nazareth, ich habe ein schwarzes Gesicht, Indio-Blut und den Körper einer Frau.“

Das erhitzt natürlich die Gemüter und ruft Widerspruch hervor. Brasilien erlebt seit einigen Jahren den Aufstieg eines neuen Erz-Konservatismus, der sich auch im starken Wachstum der evangelikalen Kirchen niederschlägt, den größten Verbündeten des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro. In dessen euro-zentristischem Gesellschaftsbild haben Frauen, ethnische Minderheiten und Homosexuelle nur einen untergeordneten Platz. „Sie entwickeln sich langsam zu Menschen wie wir“, hat Bolsonaro etwa über Brasiliens Indios gesagt. Seine Amtszeit hat er unter das Motto gestellt: „Brasilien über alles, Gott über allen!“ Er präsentiert sich gerne als Bewahrer der traditionellen Familie.

Vor diesem Hintergrund wirkt der Mangueira-Umzug natürlich umso provokanter. An ihrer Werkhalle hat die Sambaschule wohlweislich ein Spruchband aufgehängt: „Mangueira, sie werden dir 1000 Sünden anhängen.“

Tatsächlich machen verschiedene Gruppen in den sozialen Netzwerken nun mobil gegen die Sambaschule. Evangelikale Christen werfen ihr Blasphemie vor, weil sie nicht den Jesus der Bibel zeige. Stattdessen, so wird behauptet, sei der Christus der Mangueira ein „Kommunist“. Mancher spekuliert böswillig, ob dieser Jesus vielleicht nicht auch ein Drogendealer sei. Rios Favelas, auch die Mangueira, werden von Drogenmafias dominiert, da der Staat die Viertel ignoriert. Andere Kritiker beklagen, dass der Karneval zur „linken Indoktrinierung“ missbraucht werde. Er sei zu einem Werkzeug des „Kulturmarxismus“ verkommen.

Die Aggressivität der Netz-Attacken gegen die Mangueira weckte zeitweilig die Befürchtungen, dass die Sambaschule auch physisch angegriffen werden könnte. Die Angst ist nicht ganz unbegründet. Vor einige Wochen schmissen rechtsradikale Christen mehrere Molotov-Cocktails auf eine Filmproduktionsfirma, die eine Satire mit einem schwulen Jesus produziert hatte.

Es sind aber nicht nur die konservativen Evangelikalen, die Stimmung machen. Auch reaktionäre Katholiken agitieren gegen die Mangueira. Den Protestaufruf des katholischen Instituts Plinio Corrêa de Olivieria gegen „die Beleidigung unseres Herrn“ haben bislang rund 115000 Menschen unterzeichnet. Es gehe darum, die Ehre des Erlösers zu verteidigen, so das Institut. Der Umzug der Mangueira gehöre verboten.

Über solche Behauptungen kann Leandro Vieira nur den Kopf schütteln. Er ist der Carnevalesco der Mangueira, eine Art Dramaturg und Regisseur des Umzugs. Am Rande einer Probe an einem verregnetem Februarabend sagt er, dass die Mangueira den ursprünglichen Jesus zeige: „Jesus war bei den Armen und Unterdrückten, seine Botschaft war die Liebe“, so der 36-Jährige. „Jesus wäre heute bei den Favelabewohnern. Bei den Straßenkindern. Bei einem verängstigten Schwulen. Einer alleinerziehenden Afro-Brasilianerin.“

Es ist eine klare Botschaft: Vieira will Jesus befreien vom Brimborium des institutionalisierten Glaubens. Er will ihn als jemanden zeigen, der den Menschen Hoffnung macht anstatt ihnen Furcht einzuflößen. Als einen, der im Geringsten von uns fortlebt.

Bereits vergangenes Jahr hatte Vieira mit seinem Umzug für „die wahren Helden Brasiliens“ für Aufsehen gesorgt. Darin war der Politikerin Marielle Franco gedacht worden, die von Milizen mit Verbindungen zu den Bolsonaro-Söhnen ermordet worden war. Der Umzug brachte der Mangueira den Titel als beste Sambaschule ein – und den Ruf, eine starke Stimme gegen den erstarkenden Bolsonarismus zu sein.

Diese Politisierung von Rios Karneval kann man als direkte Folge der Polarisierung sehen, die Brasilien in den vergangenen Jahren zwischen links und rechts erlebt hat. Man ist gezwungen, Position zu beziehen. Präsident Bolsonaro und seine Anhänger verbreiten täglich Hass auf Arme, Indigene, Homosexuelle und Andersdenkende. Das provoziert die Karnevalsgemeinde, die ihren Wurzeln treu bleibt. Denn der Karneval und der Samba stammen aus den Favelas Rios, beide sind eng mit dem Kampf der schwarzen und armen Brasilianer um Gleichberechtigung verbunden.

Obwohl die Mangueira in diesem Jahr die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist sie nicht die einzige Sambaschule, die provoziert. Die Schule São Clemente widmet sich der Figur des Halunken in der brasilianischen Geschichte. Ein Kapitel des Umzugs ist Präsident Bolsonaro gewidmet: „Das ganze Land ist seinen Lügen auf den Leim gegangen“, heißt es im dazugehörigen Samba.