Brasilien: Künstler und Putschisten

Die Carmina Burana schallt über den Platz vor Rio de Janeiros Stadtparlament. Auf den Stufen des Gebäudes spielen 50 Musiker Orffs Stück mit Pauken, Geigen und Trompeten, dazu singt ein Chor: „Fora Temer, Fooora Temeeer“. Rund 10000 Demonstranten stimmen ein.

Es ist ein wöchentliches Spektakel in Rio, seit Michel Temer vor einem Monat die Amtsgeschäfte von der suspendierten Präsidentin Dilma Rousseff übernommen hat. Auch in der größten Stadt des Landes, São Paulo, finden jede Woche Proteste statt. Das Motto, es ist immer dasselbe: Fora Temer – Temer Raus!

Der 75-jährige Politiker, der sechs Jahre lang Rousseffs Vizepräsident war und dann ihren Sturz betrieb, wird von einem beachtlichen Teil der Brasilianer radikal abgelehnt, darunter viele Künstler und Intellektuelle. Keine Demo, bei der sich nicht bekannte Schauspieler sehen lassen oder prominente Musiker auftreten. Die Samba-Legende Beth Carvalho hat eigens einen Song geschrieben: „Lasst uns einander die Hände reichen und unser Land retten, wehre dich, mein Volk, wehre dich.“

Schon vor der Suspendierung Rousseffs sprachen sich Dutzende Künstler im Internet gegen ihre Absetzung aus. Die bekanntesten: der Schauspieler Wagner Moura und die Musiker Chico Buarque, Caetano Veloso, Elza Soares. Sie warnten vor einem „golpe“, einem Putsch. Die Demokratie sei hart erkämpft worden und müsse verteidigt werden. Viele Kunstschaffende sind dabei nicht unbedingt Anhänger Dilma Rousseffs, halten aber den Impeachmentprozess für ein Schurkenstück korrupter und erzkonservativer Kräfte.

Für internationales Aufsehen sorgte der Auftritt des Regisseurs Kleber Mendonça Filho bei den Filmfestspielen von Cannes. Vor der Präsentation seines Films „Aquarius“ hielten er und seine Schauspieler Zettel in die Kameras. „In Brasilien findet ein Staatsstreich statt“. Und auch im Berliner HAU tragen nun brasilianische Künstler beim Kulturfestivals „Projeto Brasil“ ihren Protest in die Welt.

In Brasilien ernten solche Aktionen nicht nur Zustimmung. Die Künstler seien gekauft, wird gespottet. Sie würden von der Linken alimentiert, seien Parasiten, Kommunisten, sollten nach Kuba gehen. Es zirkulieren Aufrufe zum Boykott von „Aquarius“. Enthemmung und Gehässigkeit beherrschen auch in Brasilien die Auseinandersetzung in den sozialen Netzwerken. Dabei treten die sozialen und kulturellen Gräben, die diese Gesellschaft seit Jahrhunderten spalten, offen zutage.

Was also ist passiert, einem Land, dem man einmal große Toleranz, sogar Harmoniesucht nachsagte? Zwei Narrative prallen aufeinander.

Da ist die konservative Lesart, derzufolge die linke Arbeiterpartei (PT) 2002 die Regierung gekapert hat und seitdem das Land ausplündert. Sie habe ein System aus Korruption errichtet und halte sich nur an der Macht, weil sie die Masse der Armen mit Sozialprogrammen alimentiere, sozusagen ihre Stimmen kaufe. Die Chefs der kriminellen Vereinigung seien Ex-Präsident Lula da Silva und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff. Sie wollten eine sozialistische Diktatur wie in Venezuela installieren und führten Brasilien an den Rand des wirtschaftlichen Kollaps. Deswegen sei die Absetzung Dilma Rousseffs notwendig. Der Impeachmentprozess verlaufe verfassungskonform.

In der linken Erzählung hingegen hat die Arbeiterpartei Brasilien mit Sozialprogrammen gerechter gemacht. Sie hat neue Chancen für Arme und Schwarze geschaffen und Millionen Menschen den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht. Aber nun zeige die alte Oligarchie aus Großgrundbesitzern, Industriellen, dem Globo-Medienkonzern und mächtigen Politikdynastien ihr wahres Gesicht. Sie wolle zurück an die Fetttöpfe. Ihr applaudiere die hasserfüllte weiße Oberschicht, die es nicht verwinden könne, dass ihre Hausbediensteten auf einmal auch in der Shoppingmall einkauften. Daher sei die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff unter fadenscheinigen Gründen suspendiert und ihr intriganter Vize Michel Temer installiert worden. Temer würde nun ein konservatives Rollback betreiben. Weil die Brasilianer nie für diese Politik gestimmt hätten, sei dies ein Putsch. Der Kampf gegen die Korruption sei immer nur ein Vorwand gewesen.

Tatsächlich hat Temer keine Zeit vergehen lassen, seinen Kritikern Munition zu liefern. Zuerst berief er ein Kabinett aus 23 weißen Männern. Sieben davon stehen im Verdacht, sich im Korruptionsschema um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras bereichert zu haben. Einer wurde verurteilt, weil er als Bildungsminister seines Bundesstaats Gelder abzweigte, die für Schulessen bestimmt waren. Der neue Agrarminister ist einer der größten Sojaproduzenten und Regenwaldzerstörer der Welt. Zwei Minister gehören radikalen evangelikalen Sekten an, drei sind Sprosse von sogenannten Colonels: Politikdynastien, die ganze Regionen durch Korruption und Gewalt beherrschen.

Was ist von solcher einer Truppe zu erwarten? Der neue Arbeitsminister möchte die Krankheitstage von Hausbediensteten von ihren freien Tagen abziehen lassen. Der Bildungsminister ist gegen die Quoten für Schwarze an Universitäten. Der neue Sicherheitsminister hält einen Untersuchungsbericht über die Verbrechen der Militärdiktatur für „unverantwortlich“, weil sein Vater darin als Täter auftaucht. Der neue Justizminister war vorher Sicherheitschef von São Paulo und ließ die Polizei brutal gegen Schüler vorgehen, die für bessere Bildung streikten.

Es ist also eine Art Horrorkabinett, das Temer berufen hat, der zu allem Überfluss wegen seines Aussehens oft als Vampir verspottet wird. Als Motto seiner Regierung hat er das verstaubte „Ordnung und Fortschritt“ gewählt, das auf Brasiliens Flagge prangt. Für den Schriftsteller Luiz Ruffato ist das der Beweis dafür, dass der Wind der Restauration durch Brasilien weht. Das Lema entstamme der autoritären Doktrin des Positivismus. Diese habe die ideologische Basis für den Militärputsch von 1964 geliefert. Ruffato, bekannt geworden durch seine mutige Rede bei Frankfurter Buchmesse 2013, ist einer der wenigen Schriftsteller, die sich äußern. Der Protest wir hauptsächlich von Musikern und Schauspielern getragen.

Temer macht es ihnen einfach. Zunächst verkündete er die Abschaffung des Fernsehsenders TV Brasil, der als einziger ein ernstzunehmendes Kulturprogramm macht. Als nächstes strich er das Ministerium für Frauen, ethnische Gleichstellung und Menschenrechte sowie das Kultusministerium.

Auf das Entsetzen der Kulturgemeinde reagierten Mitglieder seiner Regierungskoalition mit Schadenfreude. Der evangelikale Abgeordnete Marco Feliciano riet den Künstlern, sich doch ans Arbeitsministerium zu wenden. Sie sollten arbeiten gehen, anstatt sich vom Staat alimentieren zu lassen.

Doch Temer hielt dem Druck der protestierenden Kulturschaffenden nicht stand, die das Kultusministerien in Rio und São Paulo besetzen. Er nahm die Abschaffung des Ministeriums wieder zurück und suchte eine Frau für seine Spitze. Aber er fand keine und setzte einen 33 Diplomaten ein, dessen einzige Erfahrung die Organisation der 450-Jahr-Feier von Rio de Janeiros ist.

Kein einziger Brasilianer hat Temer ein Mandat für diese Politik erteilt. Und so fragte der Satiriker Gregorio Duvivier in einem Sketch: „Was haben Amy Winehouse, Jimi Hendrix und Brasiliens Demokratie gemeinsam?“ Die Antwort: „Alle drei starben mit 27 Jahren.“

Temer übrigens ist Hobbypoet. Er hat einen Gedichtband unter dem Titel „Anonyme Intimität“ veröffentlicht. In dem Stück „Wege“ dichtet er: „Wenn ich könnte / Würde ich nicht weitermachen.“ Brasiliens Kulturgemeinde wünscht sich das.