Brasiliens alltäglicher “Genozid“

Brasiliens alltäglicher “Genozid“

„Gerechtigkeit und Frieden“, haben die Anwohner mit weißer Farbe auf die Straße vor der Favela gepinselt. Sie trägt den schönen Namen Paraisópolis und ist mit 100.000 Einwohnern das größte Armenviertel São Paulos.

Foto: Vilar Rodrigo

So als ob einem die krassen sozialen Unterschiede Brasiliens vor Augen geführt werden sollten, grenzt sie direkt an eins der wohlhabendsten Viertel der Millionenstadt.

Nun ist Paraisópolis zum Emblem für die tödliche Gewalt geworden, mit der Brasiliens Polizei immer öfter gegen Arme, Schwarze und Jugendliche vorgeht. Neun Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren, darunter ein Mädchen, wurden in Paraisópolis in der Nacht auf Sonntag totgetrampelt, als Polizisten einen Baile Funk mit 5000 Teilnehmern gewaltsam auflösten. Ein Baile Funk ist eine Tanzparty, bei der Funk genannter Hiphop gespielt wird, der aus den Favelas Brasiliens stammt. Bei der Polizei und in konservativen Kreisen ist der Funk verschrien, weil seine Texte oft sexuell eindeutig sind, von Drogen, Gewalt und Armut handeln. Nicht selten werden Baile Funk-Parties in den Favelas auch von Drogengangs organisiert.

Noch ist der genaue Ablauf der Ereignisse in Paraisópolis nicht geklärt. Wie so oft gibt es unterschiedliche und widersprüchliche Versionen. Die Polizei gibt an, ihre Beamten seien in der Nähe der Favela von zwei Männern auf einem Motorrad beschossen worden. Die Täter seien in Richtung des Baile Funks geflüchtet. Bei der Verfolgung sei es dann zu Tumult und Panik auf der Veranstaltung gekommen. Die Menge habe die Beamten mit Stein- und Flaschenwürfen empfangen.

Ganz anders klingen demgegenüber die Aussagen der Jugendlichen, die auf dem Baile Funk waren. Auch die Handyaufnahmen von Anwohner zeichnen ein anderes Bild. Demnach schoss die Polizei ohne Vorwarnung mit Gummigeschossen und Tränengas auf die feiernde Menge, die in Panik flüchtete. Die Polizisten trieben die Jugendlichen dann in die engen Gassen der Favela, in denen neun von ihnen ihre Leben verloren. Auf einigen Aufnahmen ist zu sehen, wie Polizisten flüchtende Jugendliche mit Schlagstöcken verprügeln, sie treten und beschießen. Ein verletzter Jugendlicher weist eine Schusswunde auf. Es ist unklar, aus welcher Waffe die Kugel stammt.

Eher linke Kommentatoren, Politiker und der Menschenrechtsbeauftragte des Bundesstaats São Paulo sprechen nun von einem „Massaker“. Die Polizei habe die Jugendlichen in den Tod getrieben. Es wird gefragt, ob die Polizei genauso gegen eine Veranstaltung von weißen und reichen Jugendlichen aus dem Nachbarviertel vorgegangen wäre. Natürlich fällt die Antwort negativ aus.

Der konservative Gouverneur von São Paulo, João Doria, nimmt hingegen die Polizei in Schutz. Er betont, dass der Baile Funk ohne Lizenz stattgefunden habe. Die Forderung nach einer Genehmigung ist allerdings ziemlich absurd, weil der Staat in den Favelas abwesend ist. Er sorgt dort weder für Bildung, Gesundheit, öffentliche Sicherheit, Abfallentsorgung oder Freizeitangebote für Jugendliche. Das Entstehen von parallelen Machtstrukturen ist die Folge. Die narrative Taktik Dorias, der Ambitionen auf Brasiliens Präsidentenamt hat, wird jedoch klar: Die Opfer sollen selbst Schuld an ihrem Schicksal sein, weil sie auf einer illegalen Veranstaltung waren.

Unterdessen schält sich heraus, was hinter der Polizeiaktion stecken könnte. Bewohner von Paraisópolis berichten in brasilianischen Medien unter Zusicherung von Anonymität, dass es sich bei den Ereignissen um eine Racheaktion der Polizei gehandelt habe. Anfang November wurde in der Nähe der Favela ein Polizist erschossen. Seitdem würden Polizisten die Anwohner immer wieder kontrollieren, beschimpfen, bedrohen, schlagen und ihnen sogar Waffen an den Kopf halten. Tatsächlich sind kollektive Vergeltungsaktionen der Polizei gegen die Bewohner von Favelas nach dem Tod eines Beamten nichts Ungewöhnliches in Brasilien.

Die Ereignisse von Paraisópolis fallen zusammen mit einer größeren Debatte über die zunehmende Polizeigewalt in Brasilien. So hat beispielsweise die Polizei von Rio de Janeiro noch nie so viele Menschen umgebracht wie in diesem Jahr. Das Institut für Öffentliche Sicherheit (ISP) hat allein bis Oktober 1.546 Tote gezählt. Es ist die höchste Zahl seit 1998, als mit der Zählung begonnen wurde. Allzu oft sind die Toten keine Kriminellen, sondern Unschuldige wie beispielsweise die achtjährige Àgatha, die im November in einer Favela von Polizisten erschossen wurde. Konsequenzen für die Beamten sind selten. Rios rechtsgerichteter Gouverneur Wilson Witzel hat interne Kontrollinstanzen abgeschafft und lässt sich lieber in Rambo-Pose in Hubschraubern filmen, aus denen mit schweren Maschinengewehren auf Favelas geschossen wird. Er hat auch den Einsatz von Scharfschützen angeordnet, die Kriminelle in den Favelas mit Kopfschüssen töten. Es sind außergerichtliche Exekutionen, von denen die Öffentlichkeit so gut wie nie etwas erfährt.

Witzel liegt damit ganz auf der Linie von Brasiliens rechtsextremistischem Präsident Jair Bolsonaro. Dieser hat gesagt, dass ein Polizist, der nicht tötet, kein guter Polizist sei. Er hat nun gemeinsam mit seinem Justizminister Sérgio Moro, der noch als Richter Bolsonaros größten Rivalen Lula da Silva in einem fragwürdigen Gerichtsverfahren hinter Gitter brachte, eine Justizreform auf den Weg gebracht. Darin wird Polizisten Straffreiheit zugesichert, die bei „Aktionen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung“, exzessiv agieren, etwa töten. Menschenrechtler und Favela-Aktivisten warnen nun vor einem „Genozid“ in Brasiliens Armenvierteln.