Der Tod der weisen Männer und Frauen

Der Tod der weisen Männer und Frauen

Das Foto ging um die Welt. Paulino Paiakan sitzt mit Federschmuck und indigener Bemalung neben dem britischen Musiker Sting im Dschungel. Die beiden protestieren gegen den Bau des riesigen Staudamms Belo Monte im brasilianischen Amazonasbecken.

1989 war das und Paiakan, ein Anführer des indigenen Volks der Kayapó, wurde damals international berühmt. Maßgeblich half er später mit, dass die Kayapó ein eigenes Reservat bekamen. Nun ist Paiakan tot, er starb Mitte Juni an Covid-19.

Mit dem 67-Jährigen fiel eine weitere Führungsfigur der rund eine Million Ureinwohner Brasiliens dem Coronavirus zum Opfer. Etwa zwei Dutzend Kaziken, Stammesälteste und Medizinmänner – in Brasilien Pajés genannt – hat das Virus bereits getötet. Es bedroht eine ganze Generation von politischen, sozialen und religiösen Autoritären der Indigenen. Ohne sie drohten einige Völker regelrecht zu verwaisen, beschrieb eine Zeitung die Situation.

Der Tod dieser Männer und Frauen ist vor allem deshalb so folgenschwer, weil sie eine Art Gedächtnis ihrer Gemeinden sind, in denen traditionelles Wissen nicht schriftlich festgehalten, sondern sowohl durch mündliche Überlieferung als auch durch Praxis vermittelt wird. Dieses Wissen nehmen die Ältesten nun mit ins Grab. „Es ist als ob eine Bibliothek verbrannt würde“, sagt Alessandra Korap. „Ohne die Alten wird es schwieriger für uns, unser Wissen zu bewahren und unseren Kindern weiterzugeben.“

Korap ist selbst eine Führungsfigur ihres Volkes, den Munduruku, deren 14.000 Angehörige im Bundesstaat Pará leben. „Wir alle sterben“, sagt sie. „Aber durch das Virus geschieht alles so schnell. Den Alten bleibt keine Zeit mehr, sich und ihre Dörfer vorzubereiten.“ Allein die Munduruku haben in den vergangenen Wochen ein Dutzend ihrer Ältesten verloren. Man solle sich ein Kind vorstellen, sagt Korap, das plötzlich ohne die Orientierung und Fürsorge seiner Mutter bliebe. Es sei niemand mehr da, den man um Rat in schwierigen Angelegenheiten fragen könne.

Der 78-jährige Arcelino Dace war solch eine lebende Bibliothek, als er Anfang Juni an Covid-19 starb. Er war einer der letzten Munduruku, die in ihrem Gedächtnis noch das Wissen mehrerer Generationen bewahrten, schreibt ein Angehöriger von ihm, Honésio Dace. Er habe die Kosmologie der Ureinwohner Amazoniens in sich getragen, die auf der Erfahrung des Lebens im schier unendlichen Urwald beruhe, etwa die Vorstellung, dass man nach dem Tod als Dschungeltier wiedergeboren werde.

Arcelino selbst habe als junger Mann in einer „Uksa“gelernt, berichtet Honésio Dace. So hießen die Häuser, in denen die Ältesten einst ihre Kenntnisse über Handwerk, Landwirtschaft, den Wald, die Jagd, die Medizin und vieles mehr weitergaben. Besonders genau habe Arcelino auch Bescheid gewusst über Musikinstrumente, Gesang und indigenes Kunsthandwerk. Ebenso sei er ein großer Geschichtenerzähler gewesen und er beherrschte die Kunst, Gelenke wieder einzurenken. Dieses Wissen ist nun mit ihm fortgegangen.

Viele der mehr als 300 indigenen Völker Brasiliens fürchten nun wegen der Corona-Pandemie nicht nur um ihre Gesundheit, sondern auch um ihr kulturelles Erbe und historisches Gedächtnis. Dabei sind die verschiedenen Völker recht unterschiedlich betroffen. Die größten Ethnien, die Kaingang und die Guarani, sind ein paar Zehntausend Menschen stark; aber viele Völker haben nur zwischen einigen Hundert und wenigen Tausend Angehörige. Und es gibt sogar Ethnien mit lediglich vier Mitgliedern – etwa die Akuntsu, die in den 1980er Jahren Opfer eines Massakers von Viehzüchtern wurden. Dementsprechend verteilt ist sowohl das gesundheitliche Risiko wie die Gefahr eines unwiderbringlichen Kultur- und Traditionsverlusts. Die Brasilianische Gesellschaft für Archäologie schreibt, dass durch das Verschwinden der alten Indigenen das historische Wissen in vielen Regionen Brasiliens verloren gehe. Angela Kaxuyana vom Indigenenverband Coiab vergleicht die Situation sogar mit dem Brand, der 2018 das brasilianische Nationalmuseum zerstörte. „Unsere Überlieferung verschwindet.“

Dass nun auch ganz praktische Dinge des Alltags bedroht seien, betont Dinaman Tuxá vom Interessenverband der Indigenen Völker Brasiliens (Apib). Er erzählt am Telefon, dass die Alten in seinem Volk, den Tuxá, beispielsweise uralte Worte weitergeben, die viele junge Menschen gar nicht mehr kennen würden. „Sie können die besten Tage zur Aussaat von Maniok und Mais nennen und die besten Tage zur Ernte. Sie wissen, wie man tagelang im Dschungel überleben kann.“

In Brasilien, einem der weltweiten Hotspots der Pandemie, sind bereits 55.000 Menschen an Covid-19 gestorben, es gibt 1,2 Millionen Infektionen. Besonders hart trifft das Virus die indigenen Völker, deren Todesrate 150 Prozent über der Gesamtbrasiliens liegt. 350 Indigene fanden durch Covid-19 bereits den Tod, fast 8000 sind infiziert. Wie viele der Opfer nun genau religiöse, soziale oder politische Autoritäten waren, ist schwer zu sagen; allerdings häufen sich die Berichte über verstorbene Älteste, die aus den verschiedensten Winkeln Brasiliens kommen.

Unter den Indigenen weckt die Pandemie auch ein historisches Trauma: Aus Europa eingeschleppte Krankheiten waren seit Beginn der Kolonisierung für den Tod von Millionen amerikanischer Ureinwohner verantwortlich, die keine Immunität besaßen. Manche Krankheiten, etwa die Pocken, wurden gezielt zur Dezimierung der Indigenen eingesetzt. Das Corona-Virus gelangte nun wiederum oft mit illegalen Goldgräbern, Holzfällern und sogar evangelikalen Missionaren, die von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro unterstützt werden, in die Reservate

Eine besonders tragischer Fall ist der von Lusia dos Santos Lobato, Führerin der Borari, einem Volk mit 1100 Mitgliedern am Fluss Tapajós, der in den Amazonas mündet. Dona Luisa war eine der ersten weiblichen indigenen Führerinnen und sorgte dafür, dass die Borari alte Bräuche wieder aufnahmen, etwa das rituelle Fest Sairé, das in den 1940ern von katholischen Priestern verboten worden war. Aber Dona Luisa erinnerte sich daran, sie war 1933 geboren worden und hatte das Sairé-Fest als kleines Mädchen noch erlebt. Nun ist auch ihre Bibliothek erloschen.