Er breitet die Arme aus, aber umarmt uns nie

Die Christus-Statue von Rio de Janeiro wird 90 Jahre alt. Einst als Symbol des Katholizismus gedacht, ist sie zum Symbol der brasilianischsten aller Städte geworden. Die einen finden Trost in ihr, die anderen beklagen sich über zu wenig Beistand. Spott kommt einzig aus São Paulo.

Einmal verlor der Christus von Rio de Janeiro sogar den Kopf. Es war am 3. Oktober 2012 und Schuld hatten die Deutschen. Das Konsulat der Bundesrepublik ließ zum Tag der Wiedervereinigung die Christusfigur in den deutschen Nationalfarben anstrahlen. Das sah toll aus – bis die Dunkelheit hereinbrach und der obere, schwarz angeleuchtete Teil der Statue vom Nachthimmel verschluckt wurde.

Es ist nur eine Episode in der langen Geschichte der Statue, die an diesem Dienstag 90 Jahre alt wird. Der Christus von Rio hat sozusagen Geburtstag und die Stadt gedenkt ihres berühmtesten Wahrzeichens.

War sie einst als Symbol für die Dominanz des Katholizismus in Brasilien gedacht, so repräsentiert sie heute Rio de Janeiro, die wohl brasilianischste aller Städte mit ihrer Mischung aus Sonne, Sinnlichkeit, Gewalt, Musikalität und Armut. Kein Ort in Brasilien wird häufiger von Touristen besucht als die Aussichtsplattform zu Füßen der Figur, von der man einen majestätischen Blick über die einzigartige Stadtlandschaft Rios hat.

Die Cariocas – so heißen die Bewohner Rios – haben völlig unabhängig von ihrer Konfession ein fast inniges Verhältnis zu der Statur entwickelt. Man ist hier stolz auf das Wahrzeichen, das nicht nur als ästhetisch gelungen gilt, sondern mit seinen ausgebreiteten Armen auch als Trost in einer Stadt empfunden wird, in der ein Großteil der Menschen täglich ums Überleben kämpft. „Unser Christus heißt jeden willkommen. Er ist unser Megazord“, sagt eine 32-jährige schwarze Frau und meint damit eine Figur aus der japanischen Kultserie Power Rangers. „Er beschützt uns!“ Es gehört zu den Widersprüchen Rios, dass sie selbst die Statur wegen der relativ hohen Eintrittspreise erstmals vor wenigen Monaten besucht hat.

Ambivalenz drückt auch ein Satz aus, den man oft in den Favelas Rios hört, den Armenvierteln, die komplett vom Staat ignoriert werden: „Unser Christus breitet die Arme aus, aber er umarmt uns nie“. Die ausgebreiteten Arme werden sogar zum Ziel von Spot – der allerdings vor allem aus São Paulo stammt, dem wirtschaftlichen Kraftzentrum Brasiliens.

Rio und São Paulo pflegen eine Konkurrenz, die vergleichbar mit der zwischen München und Berlin ist. In München und São Paulo behaupten sie gerne, dass man das Geld verdiene, das in Berlin beziehungsweise Rio de Janeiro ausgegeben werde. Und so witzeln die Paulistas gerne mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Neid, dass der Christus mit den ausgebreiteten Armen nur darauf warte, zu applaudieren, wenn der erste Carioca endlich einmal arbeiten gehe.

Annekdotenreich ist auch die Entstehungsgeschichte der Statur. Gebaut wurde sie zwischen 1922 und 1931. Aber die Idee zur Errichtung eines Monuments auf Rios steilstem Berg, der wegen seiner Form den Namen Corcovado trägt, der Bucklige, entstand schon in den 1850er Jahren. Damals regte ein katholischer Geistlicher ein Monument zu Ehren von Prinzessin Isabel an, der Tochter des brasilianischen Kaisers Dom Pedro II. Sie spielte später eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der Sklaverei, weswegen sie den Beinamen „die Erlöserin“ erhielt. Rios Christus wäre also fast eine Frau geworden.

Zur Reife gelangte die Idee aber erst 1920, als Rios Katholiken um Spenden für den Bau eines Monuments baten, die bald zahlreich aus ganz Brasilien eintrafen. Der Ingenieur Heitor da Silva Costa entwarf eine Statue, die „Cristo Redentor“ getauft wurde: Christus, der Erlöser.

Im Detail ausgeführt wurde sie vom französisch-polnischen Bildhauer Paul Landowski, dem als Vorbild für die 3,2 Meter langen Hände die Hände der brasilianischen Künstlerin Margarida Lopes de Almeida dienten. Das Gesicht wiederum entwarf der rumänische Bildhauer Gheorghe Leonida. Damit ist Rios Christus wie die Miss Liberty in New York – die zweite große emblematische Figur Amerikas – eine internationale Koproduktion.

Der schwierige Bau auf der schmalen Spitze des 710 Meter hohen Corcovado-Bergs dauerte neun Jahre und kostete 250 000 Dollar, nach heutigen Maßstäben rund 3,3 Millionen Dollar. Wie durch ein Wunder kam dabei niemand ums Leben. Errichtet wurde die Statue aus einem Stahlbetongerüst, das mit Zehntausenden, drei Zentimeter kleinen Mosaikstücken aus Speckstein verkleidet wurde. Das Material transportierte man mit einer Zahnradbahn hinauf. Sie fährt bis heute und bringt viele der jährlich rund drei Millionen Besucher zum Erlöser. Allerdings kann man auch wandern, es geht steil bergan, mitten durch den Dschungel.

Die Statue ist 30 Meter hoch, ruht auf einem acht Meter hohen Sockel und hat eine Spannweite von 28 Metern. Dennoch ist sie nicht die größte Christusfigur der Welt. Im polnischen Świebodzin und in Cochabamba, Bolivien, gönnte man sich noch höhere Statuen, die allerdings weder so schön noch so berühmt sind wie die von Rio.

Zur Einweihung des Christus sagte der damalige Bischof von Rio 1931: „Christus herrscht, gebietet und wird Brasilien vom Bösen befreien.“ Weitaus schönerer Worte fand der Musiker Tom Jobim in seinem „Flugzeug-Samba“ von 1963: „Meine Seele singt / Ich sterbe vor Sehnsucht / Rio, dein Meer, deine Strände ohne Ende / Rio, du wurdest für mich gemacht / Christus, der Erlöser / offene Arme über der Bucht von Guanabara.“

Das Geschenk, das Rio ihrem Wahrzeichen machen wird, ist eine umfassende Renovierung. Die Statue ist seit 90 Jahren stechender Sonne, tropischen Stürmen und Blitzeinschlägen ausgesetzt. Ihrer Symbolkraft und Erhabenheit haben sie nichts antun können.

ENDE