Eine Wahl zwischen Gott und Satan

An einem Sonntagmorgen Ende Juli steht die Frau von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro auf einer Bühne in Rio de Janeiro und ruft: „Unser Kampf gilt dem Bösen, Brasilien ist eine Gottesnation.“ Die Menge in der vollen Halle applaudiert tosend, Jubelschreie werden laut, „Brasilien über alles, Gott über allen“. Im Maracanãzinho, einer Mehrzweckarena im Stadtteil Maracanã, findet die Kür Jair Bolsonaros zum Präsidentschaftskandidaten der Liberalen Partei (PL) statt.

Das Event gleicht über weite Strecken einem evangelikalen Gottesdienst. Bei diesen wird in der Regel viel gesungen, gejubelt und geschrien. Auch ein Pastor tritt im Maracanãzinho auf, Marco Feliciano, der Parlamentsabgeordneter ist. Er spricht ein Gebet mit der Menge, in dem er sagt, dass Bolsonaro „ein Geschenk Gottes für Brasilien“ sei.

Als kurz darauf der Präsident selbst das Mikrofon ergreift, stimmt die Halle einen Chorus an: „Unsere Fahne wird niemals rot sein.“ Stattdessen wird neben der grün-gelben Flagge Brasiliens auch die Israels geschwenkt. Es ist weniger ein politisches als vielmehr ein religiöses Statement, das die Verbundenheit mit dem Geburtsland Christi demonstrieren soll.

Bolsonaro erzählt die Geschichte, wie ihm 2018 ein Attentäter ein Messer in den Bauch rammte und er nur knapp überlebte. Es sei damals ganz unwahrscheinlich gewesen, dass er Präsident werde. Nur mit der Hilfe des Allmächtigen habe er es geschafft. Ein Mann aus einer der hinteren Reihen ruft: „Bolsonaro, Sohn Gottes!“ Der Präsident beschließt seine Rede mit dem Satz: „Brasilien war, ist und wird eine christliche Nation sein.“ Tatsächlich legt Brasiliens Verfassung fest, dass der Staat säkular zu sein hat.

Am 2. Oktober sind rund 160 Millionen Brasilianer aufgerufen, einen Präsidenten und einen neuen Kongress zu wählen. In allen Umfragen zum ersten Wahlgang liegt Jair Bolsonaro deutlich hinter seinem Herausforderer, Ex-Präsident Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT). Andere Kandidaten spielen keine Rolle.

Das muss für Bolsonaro, den ultrarechten Hauptmann der Reserve, unbegreiflich sein. Für ihn und seine Anhänger ist der 76-Jährige Lula, der schon zwischen 2003 und 2011 regierte, der Anführer einer kriminellen Gang, die Brasilien ausgeraubt und die Moral verdorben hat. Bei seiner Amtseinführung vor vier Jahren hatte Bolsonaro vor Tausenden jubelnden Brasilianern versprochen, mit dem Sozialismus, der Gender-Ideologie und der linken Indoktrination an den Bildungseinrichtungen Schluss zu machen. Er würde der traditionellen Familie, dem Vaterland und Gott wieder zu ihrem Stellenwert verhelfen. Im Wahlkampf hatte er auf Lula mit einem imaginären Maschinengewehr geschossen und gebrüllt, dass man ihn und seine Bagage eliminieren werde. 58 Millionen Brasilianer votieren trotz (oder gerade wegen solcher als „authentisch“ und „ehrlich“ beschönigten) Gewaltphantasien für Bolsonaro.

Nun ist die Stimmung eine andere. Vielen Brasilianern geht es nach vier Jahren Bolsonaro-Regierung nicht besser, sondern schlechter. Fast 700.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben – auch weil Bolsonaro das Virus erst leugnete, dann die Anstrengungen der Lokalbehörden zur Eindämmung der Pandemie regelrecht sabotierte und zuletzt darauf verzichtete, frühzeitig Impfstoffe einzukaufen. Stattdessen setzte er auf das vermeintliche Wundermittel Chloroquin.

Während der Pandemie nahmen Armut und Arbeitslosigkeit zu und Millionen Menschen kamen nur dank umfangreicher Lebensmittelspenden aus der Wirtschaft, von NGOs, Kirchen und Privatleuten über die Runden. Es wurde wieder einmal deutlich, wie prekär die Lage eines Großteils der Bevölkerung im eigentlich so reichen Brasilien ist. 2022 kehrte dann der Hunger zurück: 61 Millionen Brasilianer leiden laut Vereinter Nationen unter Ernährungsunsicherheit.

Dafür ist auch die hohe Inflation verantwortlich, die die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat. „Unter Lula gab es Fleisch“, sagt eine allein erziehende Favela-Bewohnerin mit drei Kindern, die im riesigen informellen Sektor Brasiliens arbeitet und mit dem Verkauf von Kaffee an einer Busstation versucht, über die Runden zu kommen. Es ist ihre Wahlaussage.

Bolsonaro will das Blatt nun mit drei Strategien wenden. Er verteilt die „Brasilien-Hilfe“ von umgerechnet 100 Euro an die Armen; er warnt immer wieder davor, dass Lula Brasilien ruinieren und in ein zweites Venezuela verwandeln werde; und er wirbt aggressiv um die mehr als 65 Millionen evangelikalen Christen im Land. Sie machen mittlerweile rund ein Drittel der Bevölkerung sowie der Wähler aus. In Umfragen führt Bolsonaro bei den Evangelikalen mit fast 50 Prozent, während nur 32 Prozent von ihnen für Lula stimmen wollen. Bei den Wählern, die sich katholisch definieren, ist es interessanterweise genau andersherum.

Die Strategie, auf der Bolsonaros Werben um die Evangelikalen beruht, hat einen Namen: „Dominierungstheologie“ oder auch „Rekonstruktionismus“. Die Theorie dahinter besagt, dass die Christen auf der Welt ihre Herrschaft über die Sieben Berge verloren hätten. Sie müssten sie zurückgewinnen, um die Wiederkehr Christi vorzubereiten. Die sieben Berge sind: Familie, Religion, Bildung, Medien, Freizeit, Wirtschaft und Regierung. Es geht also um die Hegemonie in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Obwohl diese Strategie innerhalb des evangelikalen Gedankengebäudes nicht neu ist, war sie in der Öffentlichkeit noch nie präsenter.

Mit ihr ist auch der Eintritt von Bolsonaros dritter Ehefrau Michelle, einer fanatischen Evangelikalen, in den Wahlkampf zu erklären. Die heute 40-Jährige ist dafür mitverantwortlich, dass der Katholik Bolsonaro sich 2016 im Jordan evangelikal taufen ließ. Die Hochzeit der beiden hatte 2013 der bekannte ultrakonservative Pastor Silas Malafia geschlossen: „Der erste Grundsatz ist, dass Gott Mann und Frau geschaffen hat“, sagte er bei der Gelegenheit. „Der Mann komplementiert die Frau, und die Frau komplementiert den Mann. Alles andere ist Bla-bla-bla.“ Bolsonaro und Malafia verbindet seit eine neurotische Homophobie.

Die Strategie Bolsonaros hat schließlich auch Lula da Silva dazu gezwungen, um die Stimmen der Evangelikalen zu werben. Er sagte: „Wenn es jemanden gibt, der hier vom Dämonen besessen ist, dann ist es dieser Bolsonaro.“ Lula versuchte, die Evangelikalen, für die moralische Themen häufig wichtiger sind als ökonomische, bei ihrer eigenen Rhetorik abzuholen.

Doch es dürfte schwierig für ihn sein, größere Stimmenzugewinne im evangelikalen Lager zu erzielen. Viele Pastoren werben in ihren Kulten für Bolsonaro. Wie der Präsident behaupten sie, die Wahl sei eine zwischen Gut und Böse, zwischen Familie und Gender-Ideologie, zwischen Abtreibungsverbot und Babymord, zwischen der Kriminalisierung von Drogen und ihrer Legalisierung.

Dass diese aufgeladene Rhetorik mitunter auch zu Gewalt führt, bleibt nicht aus. In einer evangelikalen Kirche der Großstadt Goiás forderte der Pastor die Gemeindemitglieder während der Messe auf, nicht für „rote“ Parteien zu stimmen. Ein Gläubiger und sein Bruder widersprachen. Es kam zu Streit. Schließlich schoss ein Militärpolizist, der ebenfalls zur Gemeinde gehört, dem Mann ins Bein. „Es gab Aufruhr und alle waren perplex, doch bald darauf wurde der Gottesdienst wieder aufgenommen und fortgesetzt, als wäre nichts geschehen“, heißt es in einer Pressenotiz.

Um den wachsenden Einfluss der Evangelikalen in Brasilien zu verstehen, muss man auch die Zahlen betrachten. Ihr Anteil an der Bevölkerung wuchs zwischen 2010 und 2020 von 22 Prozent auf 31 Prozent. Wenn der Trend anhält, lösen sie die Katholiken bald als stärkste Religionsgruppe ab. Letztere stellen noch 50 Prozent der Bevölkerung.

Der große Unterschied ist, dass die Evangelikalen ein politisches Projekt verfolgen. 1994 bezeichneten sich 21 Abgeordnete in Brasília als evangelikal, heute sind es 105 Abgeordnete und 15 Senatoren, rund 20 Prozent des Kongresses. Bolsonaro nutzte seine Amtszeit zudem, um einen „schrecklich evangelikalen“ Verfassungsrichter zu benennen, wie er es ausdrückte. Die Trennung von Staat und Kirche wird von vielen Evangelikalen nur pro forma akzeptiert.

Als Michelle Bolsonaro ihren Auftritt im Maracanãzinho beschließt, reckt sie den Zeigefinger wie eine islamistischer Prediger gen Himmel und schwört mit bebender Stimme, dass das Schicksal Brasiliens in Gottes Hand liege: „Unser Projekt ist die Befreiung unserer Nation.“