„Gringo de Janeiro ist da!“

„Gringo de Janeiro ist da!“

Es begann mit Kevin Kuranyi, dem ehemaligen Fußballnationalspieler mit brasilianisch-schwäbischen Wurzeln. „Ich schrieb dem Kevin einfach“, erzählt Bernhard Weber, während er einen Einkaufswagen durch einen Supermarkt in Rio de Janeiro schiebt. „Es dauerte keine 30 Sekunden, bis er antwortete. Bärenstark!“

Kuranyi versprach, 1000 Euro nach Rio de Janeiro zu überweisen, damit Weber Lebensmittel für die Bewohner von Rios Armenvierteln kauft. „Die Favelas werden besonders krass von Covid-19 getroffen“, sagt Weber. „Als die Pandemie kam, spürte ich, dass ich helfen muss. Mir fiel sofort der Kevin ein, er stammt ja aus Rio.“ Es war der Beginn einer privaten Hilfsaktion, die nun schon seit einigen Wochen läuft und rund 1000 armen Familien in Rio geholfen hat. Kuranyi, mit dem Weber seit 20 Jahren befreundet ist – sie lernten sich auf einer Samba-Party in Tübingen kennen –, war der erste Spender.

Bernhard Weber lebt seit 18 Jahren in Brasilien und ist bekannter unter seinen beiden Musikernamen: „MC Gringo“ und „Gringo de Janeiro“. Sein Song „Deutscher Fußball ist Geil“ brachte es während der WM 2014 zum Kult-Hit in Brasilien. Weil es aber mit der Musikkarriere nicht so klappt, wie der 50-Jährige sich das vorstellt, arbeitet er hauptsächlich als Touristenführer sowie als Drehort-Scout für Filmcrews und Vermittler von Fußballtalenten. Kaum einer kennt Rios verborgene Ecken besser als er.

Nun sind es seine ehemaligen Kunden aus ganz Deutschland, die ihm mal kleinere, mal größere Beträge überweisen. „Sensationell“, sei die Resonanz, die seine Spendenaufrufe auf Facebook erzielt hätten, sagt Weber. Zwei mal pro Woche packt er sein Auto bis unters Dach mit Lebensmitteln voll und fährt in eine der 800 Favelas von Rio de Janeiro, um sie mithilfe von Bekannten vor Ort zu verteilen. „Es ist wichtig, dass eine Vertrauensperson aus der Favela die Verteilung koordiniert“, sagt Weber. „Sonst entsteht Chaos. Es gibt einfach zu viele Leute, die Hilfe brauchen.“

Cesta básica heißen Webers Lebensmittelpakete auf Portugiesisch, Basiskörbe. Darin enthalten sind die brasilianischen Grundnahrungsmittel Reis und Bohnen, außerdem Zucker, Salz, Nudeln, Kaffee und einige Konserven. Auch Seife und Klopapier packt Weber mit ein. Zehn bis zwölf Euro kostet eins der Pakete. Das erscheint nicht viel, aber ohne die cestas básicas, die in Brasilien auch von NGOs, Kirchen und Firmen verteilt werden, würden schon längst Millionen Brasilianer an Hunger leiden. „Für mich ist es logisch zu helfen“, sagt Weber. „Ich gebe nur etwas zurück.“

Bevor die Pandemie Brasilien im März erreichte, führte Weber regelmäßig deutsche Touristen durch die Favela Rocinha – mit rund 100.000 Einwohnern eine der größten des Landes. Hier hat Weber viele Freunde, hier kennt er sich aus, hier fühlt er sich wohl. Und wenn er, so wie heute, mit offenem Fenster die steile und enge Rua 1 hinauf fährt, winken sie vom Bürgersteig und rufen, „Gringo ist da!“

Wegen dieser engen Beziehung – Weber hat selbst mit seiner Frau und zwei Kindern in verschiedenen Favelas gelebt – kann er gut mit den Herausforderungen umgehen, die sich stellen, wenn man in Rios Favelas tätig ist. Weber erzählt, wie er eines Abends einen Anruf aus einer Favela bekam. „Die wollten, dass ich dort Lebensmittel an die Familien von Gangmitgliedern verteile, die im Knast sitzen. Ich habe sofort gesagt, dass ich das nicht mache, geht ja gar nicht.“

Als Weber am höchsten Punkt der Rua 1 in der Rocinha ankommt, lenkt er seinen Wagen vor eine Sporthalle, in der sonst Konzerte stattfinden und Fußball gespielt wird. Der Trainer der Jugendteams wartet auf Weber, er hat 40 Familien ausgesucht, die heute ein Lebensmittelpaket erhalten sollen, viele von ihnen sitzen schon auf einer kleinen Betontribüne.

Unter ihnen ist Josiane Santos. „Eine gute Woche können ich und meine Familie von Gringos Paket leben“, sagt sie. Es sei wichtig, dass es diese Hilfe gebe, sonst wüsste sie nicht mehr weiter. Santos berichtet, dass viele ihrer Nachbarn vor der Alternative stünden: Miete zahlen oder Essen kaufen.

Santos lebt mit ihren drei Töchtern zwischen neun und 15 Jahren am Rande der Favela, zwei der Mädchen spielen Fußball, eine boxt. Seit Beginn der Corona-Krise seien sie nicht mehr aus dem Haus gegangen, sagt Santos. „Sie nehmen die Quarantäne sehr ernst.“

Auch die 35-Jährige würde an diesem Nachmittag normalerweise als Verkäuferin in einem Shoppingcenter arbeiten. Aber als die Krise begann, wurde das Einkaufszentrum geschlossen und Santos verlor ihren Job und ihr Einkommen. Sie arbeitete ohne Vertrag, Lohnfortzahlung oder Anspruch auf Arbeitslosengeld.

So wie Santos geht es vielen der 1,5 Millionen Menschen in Rios Favelas. Ein Großteil von ihnen ist im informellen Sektor tätig, also als Putzfrau, Straßenverkäufer oder Handlanger auf dem Bau. „Wenn wir nicht arbeiten, dann essen wir nicht“, sagt Josiane Santos.

Auf bis zu 60 Millionen wird die Zahl der Brasilianer im informellen Sektor geschätzt. Zwar hat die Regierung einen sogenannten Corona-Gutschein von umgerechnet 100 Euro für sie ins Leben gerufen. Aber die Registrierung per App läuft nur schleppend und viele Fälle werden ohne Begründung abgelehnt. So auch der von Josiane Santos. „Ich weiß nicht, warum“, sagt sie.

Es ist auch kein Trost für Santos, dass in Brasilien die Wirtschaft nun langsam wieder hochgefahren wird. Denn Experten halten die Öffnung für überstürzt und ohne wissenschaftliche Grundlage. Brasilien verzeichnet immer noch stark steigende Infektionszahlen und bis zu 1500 Covid-19-Tote pro Tag. Mancher Gesundheitsexperte warnt wegen der Öffnung, die auf Druck von Präsident Bolsonaro geschieht, vor einem „Schlachthaus“.

Josiane Santos ist vorsichtig. „Ich bleibe lieber noch länger zuhause“, sagt sie. Das Lebensmittelpaket von Bernhard Weber und seinen deutschen Spendern hilft ihr dabei.