Wie ich nach Rio de Janeiro kam

2012 hatte ich genug. Nach 17 Jahren in Berlin entschloss ich mich, in Brasilien ein neues Kapitel aufzuschlagen. Als Nicht-Berliner war ich nie vollkommen in der Stadt angekommen. Sie wirkte auf mich immer wie ein riesiger fantastischer Abenteuerspielplatz, aber nicht der Ort, den man Heimat nennt. Lateinamerika mit seiner überwältigenden Natur und seinen vitalen und gleichzeitig so zerrissenen Gesellschaften hatte mich hingegen lange fasziniert und angezogen – beruflich wie persönlich.

2012 hatte ich genug. Nach 17 Jahren in Berlin entschloss ich mich, in Brasilien ein neues Kapitel aufzuschlagen. Als Nicht-Berliner war ich nie vollkommen in der Stadt angekommen. Sie wirkte auf mich immer wie ein riesiger fantastischer Abenteuerspielplatz, aber nicht der Ort, den man Heimat nennt. Lateinamerika mit seiner überwältigenden Natur und seinen vitalen und gleichzeitig so zerrissenen Gesellschaften hatte mich hingegen lange fasziniert und angezogen – beruflich wie persönlich.

Zum Tagesspiegel war ich 1999 als Praktikant gestoßen, ich hatte hier ein Volontariat gemacht und im Lauf der Jahre Reportagen aus aller Welt geschrieben: von Nordkorea über Ruanda bis Haiti, Paraguay und Sachsen-Anhalt. Zuletzt arbeitete ich in der Kulturredaktion. Was ich am Tagesspiegel immer mochte, war die Offenheit, Kollegialität und Begeisterungsfähigkeit der Redaktion. Aber nun wollte ich noch einmal los. Chefredakteur Lorenz Maroldt kam eines Abends zu mir in den Spätdienst in der Kulturredaktion und sagte: „Ich finde es super, wenn Leute das Wagnis Ausland eingehen. Mach es!“

Mein Plan war es, als freier Korrespondent über die Fußball-WM und die Olympischen Spiele in Rio zu berichten. Brasilien galt als als kommende Supermacht: ein Wirtschaftsgigant mit einer jungen vitalen Bevölkerung und einem riesigen Schatz an Kultur und Natur. Ich dachte mir, dass dies gute Voraussetzungen für viele interessante Geschichten sein würden.

In Rio angekommen, bezog ich zunächst ein Zimmer in einer WG. Der Ausblick war herrlich, er reichte über das alte Zentrum Rios und die enorme Guanabara-Bucht bis zu einer Gebirgskette. Aber wenn ich nach unten blickte, sah ich eine Favela und ich entdeckte Einschusslöcher in der Hauswand. Sie stammten von Querschlägern, die bei Kämpfen zwischen Drogengangs und der Polizei heraufgeschwirrt waren. „Willkommen in Rio“, sagte eine meiner beiden Mitbewohnerinnen. „Wenn es knallt, sehen wir uns in der Küche, die ist sicher.“

Damals fand ich das spannend, aber heute widert es mich an, wie man sich hier an Gewalt und Ungleichheit gewöhnt hat. Die Episode illustriert den großen Widerspruch Amerikas: ein unfassbar schöner und reicher Kontinent, der seit 500 Jahren von Ungerechtigkeit und Gewalt geplagt wird.

Meine erste Reportage für den Tagesspiegel handelte dann von einer Favela, die eine Seilbahn bekam. Das Armenviertel sollte eine touristische Attraktion werden. Während der Recherche wurde ich von Drogengangstern gestoppt, die mir eine Pistole in den Bauch drückten. Sie wollten sichergehen, dass ich kein Polizeispion bin. Ich ahnte damals, dass vieles an der Geschichte vom Aufsteigerland Brasilien nicht stimmte.

Tatsächlich kam es anders: Brasilien stürzte ab. Es gab Massenproteste und Korruptionsskandale. Die Wirtschaft schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg, der Real verfiel. Eine Präsidentin wurde abgesetzt, ein Ex-Präsident kam ins Gefängnis. Binnen weniger Monate brachen zwei Minendämme, hunderte Menschen wurden getötet. Das Nationalmuseum in Rio brannte ab. Eine schwarze politische Newcomerin wurde ermordet. Es kam der Crash: die Wahl des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Der hasserfüllte Bolsonaro, unter dem der Amazonaswald in neuer Geschwindigkeit zerstört wird, ist für mich eine Warnung an Europa. Er ist das, was Gesellschaften bekommen, die keinen Kompass mehr haben. Gesellschaften ohne Persönlichkeiten, Parteien oder Bewegungen, die eine positive Vorstellung von Zukunft formulieren können. Dann schlägt die Stunde der Zyniker.

Ich hatte in diesen Jahren alle Hände voll zu tun. Immer wieder wollte die Tagesspiegel-Redaktion verstehen, was hier vor sich geht. Kein Ereignis symbolisierte Brasiliens Absturz dabei besser als das 1-7 gegen Deutschland im WM-Halbfinale. Ich schaute das Spiel im Vereinshaus einer Sambaschule. Schon in der Halbzeit klingelte mein Handy. Der Tagesspiegel-Sportchef war dran. „Schreib auf, was da los ist“, sagte er atemlos. „Das ist ja irre. Wie reagieren die Leute, gibt es Tränen, Ausschreitungen, was bedeutet das alles?“ Im Morgengrauen sandte ich meine Reportage nach Berlin. Es sind diese Momente, für die man Korrespondent ist: Wenn man das Gefühl hat, ganz nah dran zu sein am Geschehen und den Lesern etwas davon vermitteln kann.

In Berlin mache ich nun jedes Jahr Ferien und genieße die hohe Lebensqualität der Stadt: Sicherheit, ein toller öffentlicher Nahverkehr, allgemeiner Wohlstand, viel Freizeit, die Abwesenheit von Elend. Ich wundere mich dann häufig auch über die Deutschen, die immer etwas finden, um zu meckern, etwa wenn der ICE 15 Minuten Verspätung hat. In Brasilien wäre man froh, es gäbe überhaupt Züge. So verschieben sich die Perspektiven.