Mit Limonen gegen das Virus

Mit Limonen gegen das Virus

Man stelle sich einmal vor, die Polizei stünde eines Morgens bei den Verschwörungserzählern Xavier Naidoo und Ken Jebsen vor der Tür. Gleichzeitig würde eine Razzia bei Roland Tichy ablaufen, dem Betreiber des rechten Online-Magazins „Tychys Einblicke“.

Ebenso würden Beamte vorstellig beim russischen Propagandaportal „RT Deutschland“ sowie bei einigen AfD-Abgeordneten, die für die Verbreitung von Falschnachrichten bekannt sind, etwa Beatrix von Storch und Björn Höcke.

Vergleichbares ist in Brasilien geschehen. Ein Richter des Verfassungsgerichts ordnete Ende Mai Razzien und Untersuchungen bei insgesamt 29 Bloggern, Betreibern von Nachrichtenportalen, Abgeordneten und Unternehmern an. Sie werden verdächtigt, systematisch Falschbehauptungen zu produzieren beziehungsweise ihre Verbreitung zu finanzieren. Alle sind Anhänger von Präsident Jair Bolsonaro und werden in Brasilien auch als dessen „virtuelle Miliz“ bezeichnet.

Angeordnet hatte die Razzien der Verfassungsrichter Alexandre de Moraes, nachdem auf Demonstrationen in Brasília die Schließung des Gerichts und eine Militärdiktatur gefordert worden war. Die Betroffenen sollen zu den Proteste aufgerufen und das Tribunal diffamiert haben. Es ist illegal in Brasilien, Verfassungsorgane zu bedrohen.

Präsident Bolsonaro kritisierte die Aktion der Justiz scharf. Er sagte, dass die Meinungsfreiheit verletzt würde und schimpfte auf die Richter: „Das Limit ist erreicht, verdammte Scheiße!“ Bolsonaro ist schon länger schlecht auf die Richter zu sprechen, weil sie ihm die Ernennung eines Familienfreunds zum Chef der Bundespolizei untersagten.

Ähnlich wie Bolsonaro äußerten sich die 29 Betroffenen. Der einst wegen Korruption verurteilte Politiker Roberto Jefferson, dessen Haus nach Waffen durchsucht wurde, nannte das Verfassungsgericht „Tribunal des Reichs“ – eine Anspielung an Hitlers Volksgerichtshof. Der rechtsextreme Blogger Allan dos Santos sprach an seinem Gartentor vor Journalisten von „Zensur“ und „politischer Verfolgung“. Auch einer der Söhne des Präsidenten meldete sich zu Wort: Eduardo Bolsonaro prophezeite, dass Brasilien kurz vor einem „Bruch“ der demokratischen Ordnung stünde. Es war eine kaum verhüllte Drohung mit einem Putsch von oben.

Die Razzia ist der bisherige Höhepunkt einer erhitzten Debatte über Fake News. Angefacht wird sie von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der seit vergangenen September tagt. Er hat ans Licht gebracht, dass die Bolsonaro-Kampagne im Wahlkampf 2018 illegal finanzierte Wahlwerbung einsetzte. Eine Handvoll Unternehmer bezahlte die Versendung von Millionen Propagandanachrichten, vor allem über Whatsapp, das in Brasilien mehr als 120 Millionen Menschen nutzen.

Ein Großteil der Botschaften, auch das ist klar, bestand aus Lügen und Diffamierungen. In einem Zwischenbericht konstatierte der Ausschuss, dass Falschbehauptungen die Wähler „mit Sicherheit in ihrer Entscheidung beeinflussten“. Der Politologe Guilherme Casarões kommentierte: „Willkommen in der Whatsappokratie.“ Bolsonaro wirft nun der Kommission vor, selbst Fake News zu produzieren.

Der Ausschuss ist auch deswegen heikel für den Präsidenten, weil er die Existenz des sogenannten „Hass-Kabinetts“ in seinem Regierungspalast bestätigt hat. Es besteht aus einer kleinen Gruppe Berater und Politiker, die virtuelle Kampagnen gegen politische Gegner sowie kritische Journalisten und Prominente orchestriert. Bei diesen Attacken kommen Tausende Trollbots, also automatisierte Accounts, zum Einsatz, wie die Plattform Bot Sentinel regelmäßig meldet, die Twitter nach Roboter-Aktivitäten durchkämmt. Der Kopf des „Hass-Kabinetts“ ist kein Geringerer als der Präsidentensohn Carlos Bolsonaro. Auch gegen ihn ermittelt die Bundespolizei.

Das „Hass-Kabinett“ ist die Spitze eines losen Verbunds von Bloggern, Influencern und Nachrichtenportalen. Sie alle fallen durch großen Fleiß und münchhausensche Kreativität auf. Täglich fluten sie die sozialen Netzwerke mit Videos, Bildern, Memes, Behauptungen und Artikeln. Die Verbreitung läuft wie von selbst. Erscheint beispielsweise – wie gerade geschehen – irgendwo das manipulierte Foto einer linken Politikerin im Gespräch mit gewaltaffinen Fußball Ultras (sie wurde in das Bild hineinkopiert), dann taucht es binnen weniger Stunden auf Hunderttausende Facebookseiten, in Whatsapp-Gruppen sowie bei Instagram und Twitter auf. Ist die Lüge einmal in der Welt, ist sie nicht mehr zurückzuholen.

Ausgerechnet in der Corona-Pandemie, die Brasilien außerordentlich hart trifft, sind die Erfinder von Falschnachrichten besonders aktiv. Präsident Bolsonaro ist ein Gegner der Quarantänemaßnahmen, er hält die Krankheit für ein „Grippchen“ und die Aufregung darum für ein Komplott seiner Gegner. Um seine Sicht zu stützen, verbreiten seine Fans nun immer wildere Behauptungen.

In der Whatsapp-Gruppe „Konservative Rio de Janeiro“ mit 215 Mitgliedern teilt beispielsweise ein Teilnehmer ein Video, das angeblich zeige, wie in Manaus leere Särge begraben würden. So solle die Pandemie aufgebauscht werden, behauptet er. Ein anderer Nutzer verbreitet ein Rezept aus der (nicht existenten) „Zeitschrift für Virologie“. Es empfiehlt den Genuss von Avocados und Limonen, um Covid-19 zu heilen.

Tragisch ist, wie viele Brasilianer solchen Behauptungen auf den Leim gehen. Eine Untersuchung der Cyber-Plattform Avaaz hat gezeigt, dass 72 Prozent der brasilianischen Internetnutzer an mindestens eine Falschnachricht über Covid-19 glauben. Kaum eine Nation sei anfälliger für Fake News.

Die Erfinder der Lügen sind in Brasilien vorwiegend im rechten Spektrum beheimatet. Zwar gibt es auch linke Portale und Blogger, die Falschbehauptungen verbreiten, etwa dass Bolsonaro-Fans vor ihrem Idol den Hitlergruß gezeigt hätten, obwohl sie in Wirklichkeit für ihn beteten; aber eine Untersuchung der Northwestern University aus den USA hat gezeigt, dass rechte Fake-News-Produzenten in Brasilien sowohl aktiver sind als auch eine größere Reichweite erzielen.

Sie scheinen auch weniger Skrupel zu haben. In einer Twitter-Diskussion über das Verbot von Fake News schrieb ein Bolsonaro-Anhänger: „Für mein Recht, jeden zu beleidigen, zu lügen und Schwachsinn zu behaupten.“ Das Recht auf Meinungsfreiheit wird also nicht als hohes Gut betrachtet, mit dem eine Verantwortung einhergeht, sondern als Recht zur Lüge ausgelegt.

Ein Nebeneffekt der Razzia bei Bolsonaros „digitaler Miliz“ war übrigens, dass die Aktivitäten rechter Roboter-Accounts auf Twitter schlagartig um 40 Prozent fielen.