Rio de Janeiro: 94 Schüsse, 15 Tote

Rio de Janeiro: 94 Schüsse, 15 Tote

Tatiana Carvalho zeigt den Totenschein ihres Sohnes. Hämatome, Wunden, Verletzungen der Lunge und des Schädels sind dort aufgeführt. „Die Polizisten haben ihn misshandelt“, ist Carvalho überzeugt, „genauso wie die anderen Jungs auch.“

Die klein gewachsene Frau trägt ein T-Shirt mit den Fotos zweier junger Männer, darunter hat sie einen Satz drucken lassen: „Enzo & Felipe. Sie werden niemals vergessen werden.“ Um die 39-Jährige herum stehen aufgebrachte Bewohner der Favela Fallet, einer Armensiedlung in Rio de Janeiro, deren unverputzte Häuschen sich in der Nähe des Zentrums einen Steilhang hochziehen.

Die Menschen haben sich im Gemeindezentrum versammelt, weil sie ihre Version der dramatischen Ereignisse in der Favela erzählen wollen. Ein Mann sagt: „Wir haben das erste Polizeimassaker der Bolsonaro-Zeit erlebt. Das wird jetzt so weiter gehen.“

Jair Bolsonaro ist seit dem 1. Januar Präsident Brasiliens. Er hat rücksichtslose Härte gegen Verbrecher versprochen und gesagt: „Nur eine Toter Bandit ist ein guter Bandit.“ Oder: “Ein Polizist der nicht tötet, ist kein Polizist.“

Tatiana Carvalhos Sohn hieß Felipe, er wurde 21 Jahre alt. Der andere junge Mann auf ihrem T-Shirt ist Enzo, ihr Neffe. Auch er starb. Die beiden hatten sich, so viel ist klar, mit sieben Kumpanen in einem Haus versteckt, weil sie auf der Flucht vor der Tropa de Choque waren, der Schocktruppe. Die Einheit, deren Markenzeichen eine schwarz-graue Tarnuniform ist, war in die Favela eingerückt, weil die Drogengang Comando Vermelho (es heißt Rotes Kommando) sich tagelange Gefechte mit der Gang einer benachbarten Favela geliefert hatte. Das Rattern der automatischen Gewehre und das Knallen der Pistolenschüsse waren weit zu hören, die umliegenden Straßen wurden abgesperrt, Anwohner kamen nicht mehr nach Hause.

Es gilt als sicher, dass die Männer in dem Haus zum Roten Kommando gehörten. Welche Aufgaben sie hatten, ist nicht klar, ob Sie beispielsweise Waffen trugen oder nur mit Funkgeräten ausgestattete Späher waren. Bei der Versammlung bestreiten die Favelabewohner auch nicht, dass die Jugendlichen Verbindungen zu der Drogengang hatten. „Aber die Polizisten hätten sie festnehmen können“, sagt Tatiane de Carvalho mit Tränen in den Augen. „Stattdessen wurden sie hingerichtet.“

Darauf deutet einiges hin. Die Audioaufnahme eines Favelabewohners registriert 43 Schüsse innerhalb von drei Minuten, die in dem Haus abgegeben wurden. Ein Handyvideo, das ein anderer Anwohner kurze Zeit später aus dem Fenster seiner Wohnung filmte, zeigt zwei Polizei-Pickups, die vor dem Haus stehen. Auf einem Pritschenwagen liegen Leichen. Dann sind zehn Schüsse zu hören. Eventuell tragen die Polizisten nun weitere Tote aus dem Haus und schmeißen sie auf den hinteren Wagen, das ist nicht klar zu erkennen. Drei Minuten später brausen die Pick-ups davon. Die Beamte sitzen mit Waffen im Anschlag auf den Kadavern, so als ob es Trophäen wären.

Einige Bewohner wagen sich nun in das kleine Haus. Was sie sehen, könnte aus einem Horrorfilm stammen. Blutverschmierte Kacheln, Schleifspuren, Kleidungsstücke, einzelne Schuhe. Sie machen mit ihren Handys Fotos davon. Die Wände sind von Kugeln durchsiebt, eine Untersuchung wird später ergeben, dass sieben Polizisten in dem Haus insgesamt 94 Schüsse abgaben.

Doe Version der Vorfälle, die die Militärpolizei veröffentlicht, geht auf solche Details erst gar nicht ein. Sie ist denkbar knapp. Demnach wurden die Polizisten von den Kriminellen beschossen und erwiderten das Feuer. Bei dem Gefecht kamen die Verbrecher um. Die Anschuldigungen der Bewohner seien haltlos. Die Polizei beschütze die Bevölkerung. So läuft das häufig in Brasilien. Es herrscht eine Kriegslogik, und der Krieg hat seine eigenen Gesetze. Präsident Bolsonaro hat es so ausgedrückt: „Erst schießen, dann reden.“

Felipe war der älteste der vier Söhne von Tatiana Carvalho. Wie so viele Frauen in den Armenvierteln Brasiliens ist sie alleinerziehende Mutter. „Ich war Mutter und Vater für Felipe“, sagt sie. „Ich habe ihn nicht aufgezogen, damit sie ihm so das Leben rauben!“ Carvalho arbeitet als Putzfrau in Rios wohlhabender Südzone und bietet außerdem Maniküre an.

Es gibt Menschen in Brasilien, deren Leben nicht viel zählen, insbesondere dann, wenn sie arm und schwarz sind. Man muss das so hart sagen. Der jüngste Sohn von Tatiana Carvalhos ist acht Jahre alt. Er stand vor dem Haus, als ein Polizist vorbei lief und zu ihm sagte: „Werde mal größer, damit ich dich töte.“ So berichtet Mutter Caravalho.

Jair Bolsonaro ist seit 100 Tagen Präsident Brasiliens, und selbst konservative Medien schreiben, dass seine Amtszeit bislang eine Aneinanderreihung von Absurditäten sei. Schon in seiner Antrittsrede sagte Bolsonaro, dass Brasilien jetzt vom Sozialismus befreit werde – der hier nie existierte. Er hat rechte Verschwörungstheoretiker zu wichtigen Ministern gemacht und sich auf peinliche Art bei Donald Trump angedient als er brasilianische Immigranten in den USA als böswillig charakterisierte.

Ständig sorgt er auch über Twitter für Ärger, etwa als er im Karneval das Video eines Schwulen teilt, der einem anderen auf die Haare uriniert. Dazu fragte er scheinheilig, was nur aus dem Karneval geworden sei. Es war klar, worum es ihm ging: die Diffamierung von Homosexuellen.

Ansonsten hat die Regierung Grausamkeiten verübt. Sie hat eine Rekordzahl neuer Pestizide zugelassen, plant Ölbohrungen ohne Umweltstudien, will Indigenen-Reservate zur Ausbeutung freigeben und den Waffenbesitz liberalisieren, um die Kriminalität zu bekämpfen. 64.000 Menschen wurden 2017 in Brasilien ermordet, es ist ein trauriger Weltrekord.

Zuletzt hat Bolsonaro erklärt, dass das Militär den Staatsstreich von 1964 feiern sollte. Er sei eine demokratische Revolution gewesen. Das ging sogar vielen Militärs zu weit. „Er ist nicht qualifiziert um Brasiliens Präsident zu sein“, schreibt die Zeitung „O Globo“.

Mit Bolsonaro hat sich ein neuer Ton in Brasilien eingeschlichen: autoritär, aggressiv, irrational, pseudo-religiös. Einen Spruch hört man nun häufig: „Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen.“

Es mag daher kein Zufall sein, das die Polizeigewalt seit Bolsonaros Amtsantritt deutlich zugenommen hat. Allein im Januar und Februar töteten Beamte in Rio de Janeiro fast 320 Menschen, also im Mittel fünf pro Tag, wie das Institut für Öffentliche Sicherheit (ISP) ermittelt hat. Es ist der höchste Wert der vergangenen 21 Jahre. Der Schluss liegt nahe, dass die Polizei sich von den Worten eines Präsidenten ermutigt fühlt, der sagt: „Wenn ein paar Unschuldige sterben, ist das okay. In jedem Krieg sterben Unschuldige.“

Insgesamt 15 Männer wurden bei der Polizeiaktion in der Favela Fallet getötet. Es war die blutigste Polizeioperationen in Rio seit 2007. Aber ihr Ergebnis war mager: Die Beamten stellten vier Gewehre, 14 Pistolen, sechs Granaten sowie ein paar Drogen sicher.

Aber solche Einwände zählen nur wenig. Laut Umfragen findet die Hälfte der Brasilianer es richtig, wenn die Polizei Kriminelle tötet. Kritische Zeitungsberichte über die Polizeiaktion in Fallet wurden im Netz so kommentiert: „Solange wir keine Chemiewaffen in den Favela einsetzen dürfen, müssen wir halt Munition verschwenden.“ Oder: „94 Schüsse und nur 15 Tote. Das ist der eigentliche Skandal.“

Brasilien hat sich an die Gewalt gewöhnt. Nur noch wenige Fälle sorgen überhaupt für Aufsehen. So wie zuletzt der Tot eines Musikers, der mit seiner Familie in einer Vorstadt von Rio unterwegs war, als sein Wagen von 80 Kugeln getroffen wurde. Soldaten hatten offenbar sein Auto verwechselt und selbst dann noch gefeuert, als selbstlose Anwohner versuchten, die Familie aus dem Wagen zu retten. Wie immer war das Opfer der staatlichen Gewalt ein Schwarzer. Bei einer anderen Aktion verwechselten Polizisten angeblich einen Regenschirm mit einem Gewehr und erschossen einen Mann. Bei einem Jugendlichen hielten die Beamten Popcorn für Drogen.

Der Präsident, der selbst Ex-Militär ist, äußert sich zu solchen Vorgängen nicht Eins seiner Wahlversprechen lautet: “Die Polizei erhält eine Lizenz zum Töten.”

Brasiliens neuer Justizminister ist der ehemalige Untersuchungsrichter Sérgio Moro. Der gutaussehende, schneidige 46-Jährige ist ein Held der brasilianischen Rechten, weil er Ex-Präsident Lula da Silva von der Arbeiterpartei vor der Wahl wegen Korruption hinter Gitter brachte. Lula hätte Bolsonaro laut Umfragen bei der Wahl geschlagen, aber er konnte nicht mehr antreten.

Nun hat Moro eine Justizreform vorgelegt, in der Polizisten Straffreiheit garantiert wird, wenn sie im Dienst töten, um das „Risiko einer Aggression“ zu verhindern oder aus „entschuldbarer Angst, Überraschung oder überwältigenden Emotionen“ handeln. Anwälte sind entsetzt über diese Formulierungen. Sie seien so weit auslegbar, dass sie regelrecht zum Schießen einlüden. Es sei ein Vorschlag zum Abschlachten armer Jugendlicher.

Zu den Befürwortern außergerichtlicher Tötungen gehört auch Rio de Janeiros neuer Gouverneur Wilson Witzel. Der ehemalige Richter hat vorgeschlagen, Drogendealer einfach von Snipern abschießen zu lassen. Schon kurz nach dem mutmaßlichen Massaker in Fallet gratulierte Witzel der Polizei. Per Twitter teilte er mit: „Unsere Polizei hat gute Bürger beschützt.“

Auf der Bewohnerversammlung in Fallet sehen sie das natürlich anders. Es wird viel durcheinander geredet, jeder will berichten, was er erlebt hat. Dabei wird nicht immer klar, was die Leute wirklich wissen und was sie nur zu wissen glauben. Aber zwei Dinge hört man immer wieder: „Der Staat lügt“ und „es war ein Massaker“. Wie Tatiana Carvalho tragen auch andere Mütter T-Shirts mit den Fotos ihrer toten Söhne. „Ewige Sehnsucht“, steht über einem. Einige Bewohner zeigen Bilder auf ihren Handys, die sie per Whatsapp zugespielt bekommen haben. Sie stammen aus dem Krankenhaus, in dem die Autopsien gemacht wurden. Es sind erschütternde Dokumente. Da liegen nackte Körper achtlos auf den Boden geschmissen. Auch Felipes Leichnam ist zu sehen. Er ist voller Wunden, das Gesicht blutverschmiert, sein Kopf geschwollen. Aus seinem Bauch quellen Eingeweide hervor.

Im vierseitigen Obduktionsbericht, an den später ein Reporter des Magazins „Piauí“ gelangt, werden 14 Wunden aufgelistet. Sie seien von sieben Gewehrkugeln verursacht worden, die Felipes Körper durchschlugen. Sie kamen von vorne, von hinten, von links und rechts und trafen: Kopf, Lunge, Herz, Zwerchfell, Leber, Magen, und Darm. An drei der Wunden stellten die Forensiker Pulverreste fest, so genannte Schmauchspuren. Es bedeutet, dass die Kugeln aus großer Nähe abgefeuert wurden.

Weil die Indizien auf eine außergerichtliche Exekution hindeuten, schaltete sich auch Amnesty International ein. Die Menschenrechtsorganisation verlangt die Aufklärung jedes einzelnen Todesfalls. Es ist ein frommer Wunsch. Im Jahr 2017 starben 5144 Brasilianer durch Polizeikugeln, ein Anstieg von 20,5 Prozent zu 2016. Nur in den wenigsten Fällen werden die Hintergründe geklärt.

Bei einem Anruf ein paar Tage später berichte Tatiana Carvalho, das sie ihren Sohn Felipe in der Nähe von ihrer Favela begraben wollte. Aber das ginge nicht. Der Friedhof liege in einem Viertel, das zum Terrain der gegnerischen Drogengang gehöre.

Als die Anwohnerversammlung sich langsam auflöst und in kleinen Grüppchen auf der Straße weiter diskutiert wird, erzählt eine junge schwarze Frau, dass ein Polizist zu ihr gesagt habe: „Dieses mal waren es nur zehn, nächstes mal sind es zwanzig.“ Er soll dabei ganz ruhig gewesen sein.