Das Massaker von Jacarezinho

Das Massaker von Jacarezinho

Bei einer Polizeiaktion in Rio de Janeiros Favela Jacarezinho werden 28 Menschen getötet. Es ist die blutigste Polizeioperation in der Geschichte der Stadt. Dabei erlebt eine Bewohnerin, wie in ihrer Wohnung ein junger Mann von einem Beamten hingerichtet wird. Das Massaker ist auch das Ergebnis des verfehlten „Kriegs gegen die Drogen“, der seit 50 Jahren von den USA angeführt vor allem Leid in Lateinamerika verursacht. Auch eine österreichische Waffenfirma verdient daran kräftig mit. Eine Reportage von der Front des Drogenkriegs.

Gegen neun Uhr morgens schleppte sich der junge Mann in die Wohnung von Flávia Luciana Caldes im verwinkelten Innern der Favela. Caldes erinnert sich, das er barfuß war und kein Hemd trug, lediglich Badeshorts habe er angehabt. Und dass einer seiner Füße blutete, er war von einer Kugel getroffen worden. „Der Junge hatte große Angst“, sagt Caldes. „Er flehte um Hilfe und wollte sich verstecken, aber die Blutspur in den Gassen verriet ihn.“

Kurz darauf kam ein Polizist mit einem Gewehr im Anschlag die Treppe in den zweiten Stock hinauf gerannt und drang in die Wohnung von Caldes und ihrer Familie ein. „Ich sagte ihm, dass ein Verwunderter da ist, aber er stieß mich weg“, erzählt sie. „Er wirkte wie besessen.“ Sie flüchtete mit ihrem Mann und ihrer Tochter in die Küche der kleinen Wohnung.

Die Geschichte, die Flávia Caldes erzählt, ereignete sich Anfang Mai in der Favela Jacarezinho in Rio de Janeiros Nordzone. Gegen 6 Uhr morgens rückten 250 schwerbewaffnete Beamte der Zivilpolizei in das Armenviertel ein, um gegen die Drogengang Comando Vermelho vorzugehen, das Rote Kommando, eine der größten kriminellen Organisationen Brasiliens. Unterstützt wurden sie von gepanzerten Fahrzeugen sowie einem Helikopter, der mit herausragenden Gewehren über dem Häusermeer kreiste, in dem mehr als 60.000 Menschen wohnen, von denen sich viele bereits auf dem Weg zur Arbeit befanden.

Am Ende der Operation, die die Polizeiführung „Exceptis” getauft hatte, „Ausnahme“, waren 28 Menschen tot, darunter auch ein 48-jähriger Polizist, den eine Kugel in den Kopf traf, als er eine Barrikade aus dem Weg räumen wollte. Außerdem gab es fünf Verletzte: drei Polizisten und zwei Passagiere einer vorbeifahrenden Metro.

Nie zuvor war eine Polizeiaktion in Rio de Janeiro blutiger verlaufen, nie hatte es mehr Todesopfer gegeben – weswegen Brasilien sich wieder einmal die Frage stellt, was der Zweck solcher Operationen ist. Schnell sprachen einige Medien vom „Massaker von Jacarezinho“ und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International forderten Aufklärung. Aktivisten für die Rechte von Schwarzen beschuldigen den Staat, einen „Genozid“ zu verüben, weil – wie fast immer bei solchen Aktion – alle Toten dunkelhäutig waren. Das Online-Portal „The Intercept Brasil“ vermutete, dass es innerhalb von Rios Zivilpolizei eine Art Todesschwadron gebe. Daraufhin leitete die Zivilpolizei eine Untersuchung ein – gegen „The Intercept“. Andere Stimmen verwiesen auf die weniger sichtbaren Folgen der Aktion: Viele Arbeiter aus der Favela verloren einen Tageslohn oder wurden entlassen, weil sie zu spät zum Job kamen.

Euphorisch reagierte hingegen Brasiliens Rechte. Präsident Jair Bolsonaro hatte die Wahlen 2018 auch mit Slogans wie „toter Bandit – guter Bandit“ gewonnen. Nun beglückwünschte er die Polizei über Twitter; mit ihm sympathisierende TV-Moderatoren bezeichneten die Operation als „chirurgisch“ und „voller Erfolg“. In den Kommentarspalten vieler Online-Medien traf man auf eine Gesellschaft, die aufgehört hat, nach den Ursachen von Kriminalität zu fragen und stattdessen Genugtuung will. „Die Quote war gut: Für jeden getöteten Polizisten müssen mindestens 20 Drogendealer sterben“, schrieb ein Leser der Zeitung „Extra“. Mitten in der Pandemie hat Rio de Janeiro eine neue Eskalation der Brutalität erlebt. Dabei ist die Stadt ohnehin nicht arm an Gewalt: In den vergangenen 12 Monaten wurden hier rund 950 Menschen allein von der Polizei getötet.

Das Blutvergießen wirft auch die Frage nach dem Sinn des weltweiten „Kriegs gegen die Drogen“ auf. Vor genau 50 Jahren von den US-Präsident Nixon ausgerufen, hat er bis heute kein einziges seiner Ziele erreicht. Sowohl die Nachfrage nach Drogen als auch das Angebot steigen. Und das trotz Kosten von jährlich mindestens 100 Milliarden Dollar, wie der „Alternative World Drug Report“ der Open Society Foundation schätzt. Die Leidtragenden des Krieges leben insbesondere in Lateinamerika. Hier sind mächtige kriminelle Organisationen wie das Comando Vermelho entstanden, die über Milliarden Dollars, riesige Waffenarsenale und kleine Armeen verfügen, denen die Rekruten nicht ausgehen. Sie unterwandern Staaten, korrumpieren Gesellschaften und haben von Mexiko bis Brasilien Millionen von Leben zerstört. Was Flávia Caldes in der Favela Jacarezinho erlebt hat, ist eine Episode des „Krieg gegen die Drogen“, die dessen ganze monströse Sinnlosigkeit zeigt.

Caldes ist eine 43 Jahre alte schwarze Frau, sie stammt aus Jacarezinho, verbrachte ihr gesamtes Leben hier. „Ich habe schon einige Polizeiaktionen erlebt“, sagt sie, „aber noch nie ein solches Blutbad.“ Sie berichtet ihre Geschichte im Haus einer Bekannten in der Favela, sie wollte nicht zurück in ihre alte Wohnung. Der Weg hierher führte durch ein Labyrinth aus schmalen und feuchten Gassen. Jacarezinho liegt 35 Metro-Minuten vom Strand der Copacabana entfernt, hat aber rein gar nichts mit dem Rio der Postkarten zu tun. Rechts und links der engen Gassen ragen improvisierte Bauten ein paar Stockwerke empor, zwischen ihnen ist ein wilder Kabelsalat aus irregulären Stromanschlüssen gespannt. Die Wege sind von Hundekot übersät und in vielen Häuserwänden klaffen Einschusslöcher, teils haben die Kugeln ganze Hausecken weggesprengt. „Syrien-Gasse“ haben die Anwohner diesen Teil der Favela getauft, weil es hier schon häufig Schusswechsel gab.

Während „Operation Exceptis“ lagen in diesen Gassen die verdrehten Leichen junger Männer in ihrem Blut. Anwohner machten Fotos von ihnen, die in den sozialen Netzwerken zirkulierten. Einem hatten Kugeln das Gesicht zerfetzt, ein anderer hatte mehrere Einschüsse im Bauch; ein weiterer saß ausgestreckt in einem Plastikstuhl und hatte einen Zeigefinger im Mund, offenbar wollte sich jemand post mortem über ihn lustig machen.

In der „Syrien-Ecke“ befindet sich auch die alte Wohnung von Flávia Caldes. Sie erzählt, wie der Polizist, der an jenem Morgen hereingestürmt kam, mit seinem Gewehr ins Kinderzimmer ging, wo der geflüchtete junge Mann sich versteckt hatte. Offenbar hatte er sich ins Kinderbett gelegt und schlafend gestellt. „Wo ist die Pistole?“, habe der Polizist gerufen, sagt Caldes. Dann hörte die Familie mindestens einen Schuss, es könnten auch zwei gewesen sein. Sicher ist sich Caldes nur, dass der junge Mann unbewaffnet war, als er in ihre Wohnung kam.

Seinen Leichnam ließ die Polizei noch bis zum Mittag im Kinderbett liegen, dann trugen Beamte ihn in einem Teppich fort. Zurück blieben eine blutgetränkte Matratze, Blutspritzer an den rosafarbenen Wänden sowie eine traumatisierte Familie.

Noch am gleichen Tag beschlossen Caldes und ihr Mann, aus Jacarezinho fortzuziehen. „Aus Angst vor der Polizei“, sagt sie. „Wir haben zu viel gesehen, die Beamten haben unsere Daten, sie könnten uns bedrohen, wenn wir gegen sie aussagen.“ Vor der Polizeiaktion verkaufte Caldes in der Favela Hotdogs und Hamburger, ihr Ehemann arbeitete in einem Geschäft für Baumaterialien, „wir waren gut in die Gemeinde integriert“, sagt sie. All das haben sie aufgegeben. Ihre neunjährige Tochter fragt bis heute, was mit dem Mann in ihrem Zimmer geschehen sei. Sie haben es ihr noch nicht erklärt.

Militärstrategen würden die Familie Caldes wahrscheinlich als Kollateralschaden im „Krieg gegen die Drogen“ bezeichnen. An ihm verdienen amerikanische und europäische Waffenfirmen kräftig mit, darunter auch solche aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Als die Polizei am Nachmittag die Ausbeute von „Operation Ausnahme“ präsentiert, stehen auf einem Tisch umrahmt von Drogen und Handgranaten fast anderthalb Dutzend Handfeuerwaffen der österreichischen Firma Glock. Dahinter lehnen Gewehre vom Typ M16 und AR-15 aus US-Produktion. Auch zwei SIG MCX sieht man da, es sind halbautomatische Gewehre, die von der US-Tochter des deutsch-schweizerischen Unternehmens SIG Sauer hergestellt werden. Neben ihnen kann man eine Maschinenpistole des Produzenten Heckler&Koch aus dem Schwarzwälder Oberndorf erkennen. Wie die Waffe vom Typ MP5 in die Hände des Roten Kommandos kam, kann die Zivilpolizei auf Nachfrage nicht erklären.

Fest steht, das Heckler&Koch, SIG Sauer und Glock viele brasilianische Polizeieinheiten mit einem breiten Spektrum an Waffen beliefern, von Pistolen und Maschinenpistolen bis hin zu Scharfschützengewehren und Sturmgewehren. Immer wieder kommen dabei Waffen abhanden, werden gestohlen oder von korrupten Beamten verkauft. Keine Rolle spielte es für die Unternehmen offenbar, dass Brasiliens Polizei, insbesondere die von Rio, wie keine andere auf der Welt tötet, häufig unter dubiosen Umständen wie in Jacarezinho.

Es mag zumindest bei Heckler&Koch zu einem Umdenken geführt haben, als 2018 die schwarze Stadträtin Marielle Franco in Rio mit einer MP5 erschossen wurde. Nach bisherigen Erkenntnissen waren die Mörder Angehörige einer rechtsgerichteten Miliz, die auch Verbindungen zu einem Sohn von Präsident Jair Bolsonaro hatte. Fast zeitgleich mit der Machtübernahme Jair Bolsonaros im Jahr 2019 stellte Heckler&Koch seine Lieferungen nach Brasilien dann ein. Der österreichische Pistolenhersteller Glock und SIG Sauer bauten ihre Exporte demgegenüber aus, offenbar auch, weil Bolsonaro das Waffenrecht gelockert hat.

Mit welcher Waffe der junge Mann in Flávia Caldes’ Wohnung erschossen wurde, ist unklar. Wahrscheinlich war es ein Gewehr aus US-Produktion, das die Zivilpolizei bei dem Einsatz benutzte. Caldes weiß mittlerweile, dass es sich bei dem Getöteten um Omar Pereira da Silva handelte, 21 Jahre alt, Spitzname Bigão. 2018 war er wegen eines Raubüberfalls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und verbüßte seit 2019 eine Bewährungsstrafe. So wie er hatten laut Polizei alle 27 Toten Einträge im Strafregister oder arbeiteten für das Comando Vermelho, auch das jüngste Opfer, ein 16-Jähriger. Die Polizeiführung veröffentlichte die Angaben als Reaktion auf Vorwürfe, ihre Beamte hätten außergerichtliche Hinrichtungen begangen. So als rechtfertigten sie das Unrecht, das ihre Beamten begingen.

Am Abend nach der Polizeioperation zieht ein Trauermarsch aus mehreren Hundert, zumeist jungen Menschen durch Jacarezinho. Sie tragen ein Banner, auf dem es heißt, „Hört auf, uns zu töten!“ Vorneweg gehen die Angehörigen der Opfer, fast alle sind Frauen, viele tragen Kerzen. Unter ihnen ist auch die Witwe von Omar Pereira. Die junge Frau, die nicht möchte, dass ihr Name veröffentlicht wird, trägt ein T-Shirt mit einem Foto von Omar und dem einjährigen Sohn des Paars. Darunter steht: „Warum bis du ohne mich gegangen?“ Auch die Mutter der jungen Frau ist dabei. Als die Menge hält, spricht die korpulente Frau: „Diese feige Polizei hat meinen Schwiegersohn ermordet. Er wollte sich stellen.“ Die Menge ruft: „Omar? Anwesend!“

Als man einige Tage später Jacarezinho besucht, kommt man an einem Kanal vorbei, dessen Ufer von einem Dutzend Drogenverkaufsstellen gesäumt sind. Auf den Holztischen liegen säuberlich abgepackt: Marihuana, Kokain, synthetische Drogen. Drumherum stehen junge Männer mit Pistolen und Gewehren. Sie fragen, ob man etwas kaufen wolle und machen nicht den Anschein, als ob „Operation Exceptis” ihnen Angst eingejagt hätte. Quer über die Straße haben sie eine Plane gespannt, auf die sie die Spitznamen ihrer getöteten Kollegen geschrieben haben, den „Soldaten“ wie sie im Jargon der Drogenkommandos heißen: „Ruht in Frieden: Indío, Cara Preta, Digo Digo, 2Pac, Pato, … .“ Es ist klar, dass „Operation Exceptis“ dem Nachschub des Roten Kommandos an „Soldaten“, Waffen und Drogen keinen Abbruch getan hat.

Alex T. sieht das etwas anders. Der 30-Jährige ist seit fünf Jahren Militärpolizist in Rio de Janeiro und war bei zahlreichen Operationen gegen Rios Drogengangs dabei. Offiziell darf er nicht mit den Medien sprechen, weswegen sein voller Name hier nicht genannt wird. Alex T. ist schwarz, mindestens 1,90 Meter groß und trägt Glatze. Er wuchs ohne Vater in einer Favela auf, die vom Roten Kommando dominiert wird. Nach seiner Ausbildung zog er deswegen aus Sicherheitsgründen fort.

Auch Alex T. hat schon getötet, aber alles seien „Gänse“ gewesen, sagt er: „gansos“. Es ist Polizeijargon für die Drogensoldaten. „Entweder wir töten oder wir werden getötet!“ Nur einmal sei es anders gewesen, da habe er außerdienstlich als Sicherheitsmann in einem Restaurant gearbeitet, um etwas dazu zu verdienen. Das Restaurant sei überfallen worden und er habe den Räuber erschossen, sagt er. Das sei ärgerlich gewesen, weil er den Nebenjob eigentlich nicht hätte machen dürfen und hinterher angeben musste, zufällig dort gewesen zu sein.

Alex T. ist überzeugt davon, dass Polizeioperationen wie in Jacarezinho nötig seien, damit die Drogengangs nicht zu stark würden. „Die Vagabunden müssen Angst vor der Polizei haben. Man muss ja auch das Gras im Garten regelmäßig mähen“, sagt er, „sonst wächst es zu hoch.“ Er meint, dass die Kriminellen sonst ungestört Barrikaden und Verstecke ausbauen und sich hochrüsten könnten. Genau das sei in Jacarezinho geschehen. „Der erste Tote war ein Polizist, aber über den spricht keiner mehr“, sagt Alex T. „Die Menschenrechtler verteidigen nur die Banditen.“

Ob es in der Favela zu außergerichtlichen Exekutionen gekommen ist, ist für Alex T. erst einmal nebensächlich. Er hält es für möglich, weil die Kollegen nach dem Tod des Kollegen sicherlich „Blut in den Augen“ gehabt hätten. Es ist eine brasilianische Umschreibung für Mut, Wut und Entschlossenheit. „Kein Polizist wird inmitten solch einer Operation eine verwundete Gans retten“, sagt er. „So ist das im Krieg. Diese Kanaillen wissen, dass sie früher oder später sterben werden. Es ist ihre Entscheidung, auf der falschen Seite zu stehen.“ Über die Psychologie solcher Operationen sagt der Polizist: „Wenn geschossen wird, willst du, dass es aufhört. Wenn es vorbei ist, willst du, dass es weitergeht. Muss das Adrenalin sein.“

Trotz seiner martialischen Sprüche ist Alex T. kein Anhänger des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro. „Das ist ein Schwätzer“, sagt er. Er glaubt auch, dass die eigentlichen Verantwortlichen für den Drogenkrieg gar nicht in den Favelas lebten. „Die Mehrheit der Drogenbosse ist weiß und wohnt in irgendwelchen Villen in der Südzone.“ Rios Südzone steht für Reichtum, Luxus und Sicherheit. „Dort wird mehr Kokain geschnupft als sonst wo“, sagt Alex T., aber eine Operation wie in Jacarezinho werde es dort niemals geben.

Es steht für die ganze Schizophrenie des Drogenkriegs, dass Alex T. dennoch wieder ausrücken wird, um andere junge Männer in Rios Favelas zu töten. „Das ist unvermeidlich“, sagt er.

ENDE