Der Amazonaswald in Flammen

Der Amazonaswald in Flammen

Um die Katastrophe zu verstehen, die sich unter Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro im Amazonasbecken anbahnt, muss man den Blick zunächst einmal ganz woanders hin richten. In den Weltraum.

Wie in vielen Teilen der Welt herrschte auch in Brasilien in den Sechzigerjahren Zukunftseuphorie. Das Land sah sich als aufstrebende Nation und wollte am sogenannten Rennen um den Weltraum teilhaben. Es gründete das Nationale Institut für Weltraumforschung (Inpe). Es kooperierte mit den Weltraumbehörden anderer Länder, beteiligte sich am internationalen Datenaustausch und managte einen Weltraumbahnhof im Nordosten Brasiliens. So wurde das Inpe trotz eines vergleichsweise geringen Budgets mit der Zeit eine der angesehensten und meist zitierten Forschungseinrichtungen Südamerikas.

Ab 1988 nutzte das Inpe auch Satellitenbilder, um die Amazonasregion zu beobachten. Man wollte Aufschluss gewinnen über die Abholzungen des größten tropischen Walds der Erde, der mit 4,2 Millionen Quadratkilometern rund die Hälfte Brasiliens bedeckt. Dazu entwickelte man das „Satellitengestützte Programm zur Überwachung des Amazonaswalds“ (Prodes). Es nutzt die Aufnahmen dreier Satelliten, deren Bilder zusammengerechnet werden. So erfasst Prodes Rodungen schon ab einer Größe von sechs Hektar, was circa sechs großen Fußballfeldern entspricht. Die Genauigkeit der jährlichen Prodes-Daten gilt deswegen als extrem hoch, sie wird auf 95 Prozent geschätzt; Prodes hat sich den Ruf erworben, das zuverlässigste Waldüberwachungsprogramm der Welt zu sein.

Im Jahr 2004 rief Brasiliens Regierung unter Präsident Lula da Silva dann einen „Aktionsplan zur Kontrolle der Entwaldung im Amazonasgebiet“ ins Leben. Prodes wurde ergänzt durch das Deter-Programm, dessen Aufgabe die schnellstmögliche Erkennung neuer Abholzungen ist. Dazu verwendet Deter weniger hochaufgelöste Satellitenbilder, die Rodungen erst ab einer Größe von 25 Hektar sichtbar machen. Der Vorteil: Die Auswertung geht schneller.

Das Inpe nutzt die Deter-Daten insbesondere, um die brasilianische Umweltbehörde Ibama zu alarmieren, wenn irgendwo neue illegale Abholzungen stattfinden. Das Ibama schickt dann im besten Fall bewaffnete Beamten los, um die Rodungen zu stoppen und die Umweltsünder zu bestrafen. Diese Zusammenspiel zwischen den beiden Behörden gilt heute als der Hauptgrund für den starken Rückgang der illegalen Abholzungen des Amazonaswaldes zwischen 2004 und 2012: von circa 27.000 gerodeten Quadratkilometern auf cica 4.500 Quadratkilometer.

Das Inpe spielt also sowohl für die Datengewinnung eine große Rolle, wie auch für den konkreten Schutz des Amazonaswaldes. Seinem hohen Renommee entspricht, dass es stets von international anerkannten Wissenschaftlern geleitet wurde, zuletzt ab 2016 von Ricardo Galvão, einem 71-jährigen Physiker.

All das ist bedeutend, weil Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro und sein Umweltminister Ricardo Salles eine Art Krieg gegen das Inpe und seinen Direktor begonnen haben. Ohne wissenschaftliche Grundlage stellen sie die Glaubwürdigkeit des Instituts in Frage und feuerten Galvão. Der Grund ist so simpel wie absurd: Bolsonaro und Salles passen die Daten nicht, die das Institut veröffentlicht. Diese zeigen eine drastische Zunahme der Rodungen im Amazonasbecken seit dem Amtsantritt Bolsonaros am 1. Januar. So stieg die Entwaldung im Juni 2019 um 88 Prozent im Vergleich zu Vorjahresmonat. Im Juli erhöhte sich der Wert dann sogar auf 278 Prozent. Damit droht 2019 zum schlimmsten Jahr für den Amazonasdschungel in mehr als einer Dekade zu werden.

Auch die längerfristigen Zahlen belegen das sich anbahnende Desaster: Das Deter-System hat zwischen August 2018 und Juli 2019 rund 6830 Quadratkilometer neu entwaldeter Flächen identifiziert. Allein ein Drittel dieser neuen Rodungen registrierte es diesen Juli. Grob geschätzt bedeuten die Daten, dass in Brasilien zurzeit im Durchschnitt jede Minute eine Waldfläche von der Größe dreier Fußballfelder verschwindet. Brasilien ist damit das Land der Erde, das seinen Primärwald am rasantesten vernichtet. Es folgen mit großem Abstand der Kongo, Indonesien und Kolumbien.

Brasiliens Präsident will das nicht wahrhaben – auch weil er weiß, dass sein Land im verschärften Fokus der Öffentlichkeit steht, seit er die Macht übernommen hat. Statt aber einfach etwas gegen die Abholzung zu unternehmen, bezichtigte er das Inpe der „Lüge“. Die Inpe-Forscher seien „schlechte Brasilianer“, die „im Dienst von irgendeiner NGO“ agierten, behauptet er. Sie hätten die Daten aufgebläht, um das Image Brasiliens zu schädigen.

Inpe-Chef Galvão verteidigte sein Institut nach diesen Anschuldigungen indigniert. Bolsonaro habe offensichtlich keine Ahnung von der Relevanz seines Instituts und der Seriösität der Datenerhebung. Galvão nutzte die Gelegenheit auch, um einen Skandal öffentlich zu machen: Seit Januar verweigere Umweltminister Salles jeden Kontakt mit ihm; und die Umweltbehörde Ibama ignoriere einfach alle neuen Hinweise über neue illegale Rodungen. Bolsonaro gab dann die Order, Galvão zu feuern. Das wiederum rief sogar den Chef der US-Weltraumbehörde Nasa auf den Plan. Douglas Morton nannte die Entlassung Galvãos „alarmierend“. Die Inpe-Daten seien „unzweideutig“ und repräsentierten eine „unangenehme Wahrheit“ für Bolsonaro.

Man könnte all das als Posse aus einer Bananenrepublik mit einem infantilen Wüterich an der Spitze abtun – wenn Brasilien nicht solch eine wichtige Rolle bei die Eindämmung des Klimawandels spielen würde. Die drastische Zunahme der Rodungen im Amazonasbecken geschieht just zu einem Zeitpunkt, an dem Europäer und Nordamerikaner begonnen haben, intensiver denn je über die Erderwärmung zu diskutieren. Die neuen Hitzerekorde in Deutschland und Frankreich, die gigantischen Brände in Sibirien, das immer schnellere Abschmelzen der Polarkappen sind Alarmsignale, die nicht mehr zu ignorieren sind. In Europa und den USA hat sich ein Gefühl der Dringlichkeit eingestellt, das Wissenschaftler schon seit langem fordern. Der Arktisforscher Jeremy Mathis sagte Anfang August mit Blick auf die erstmals eisfreien Küsten Alaska: „Mir fehlen die Adjektive, um das Ausmaß des Wandels zu beschreiben, den wir erleben.“

In diesem Kontext erscheinen die Zerstörung des Amazonaswaldes und die aggressive Ignoranz der Bolsonaro-Regierung nicht nur als anachronistisch, sondern auch als hochgefährlich. Sogar der britische „Economist“, eigentlich für seine Nüchternheit bekannt, titelte Anfang August: „Totenwache für den Amazonas.“ In dem dazugehörigen Text warnt die Zeitschrift vor einem „ökologischen Kollaps“ und fordert: „Die Welt sollte Herrn Bolsonaro klar machen, dass sie seinen Vandalismus nicht akzeptiert.“ Der „Economist“ machte dann sogar den Vorschlag, dass die Konsumenten Fleisch und Soja boykottieren sollten, das auf illegal gerodeten Flächen produziert wurde.

Es ist bei alldem völlig klar, dass die Zunahme der Waldvernichtung im Amazonsbecken nicht alleine Jair Bolsonaro angelastet werden kann. Sie folgt langfristigen Trends, ist seit 2012 schon wieder kontinuierlich im Anstieg begriffen. Damals rutschte Brasilien nach einer Boom-Dekade in eine tiefe, bis heute nicht überwundene Wirtschaftskrise ab. Auffällig ist auch, wie stark das Tempo der Rodungen sich schon unter Bolsonaros Vorgänger, dem konservativen Präsidenten Michel Temer, beschleunigte. Schon 2018 war ein Katastrophenjahr für den Wald. Allerdings droht die Entwaldung unter Bolsonaro nun vollkommen außer Kontrolle zu geraten. Dies kann man mit drei Faktoren in Verbindung bringen, die spezifisch für die neue Regierung sind.

Erstens, die Rhetorik des Präsidenten, die Umweltsünder ermutigt. Jair Bolsonaro hat seine Ablehnung gegenüber dem Umweltschutz und seine Verachtung für Umweltschützer mehr als einmal verdeutlicht. Er hat gesagt, dass Umweltschutz „eine Sache für Veganer“ sei, „die nur Grünzeug essen“. Umweltschützer beschimpft er als „Öko-Schiiten“, und NGOs sind für ihn die Werkzeuge ausländischer Mächte, die Brasiliens wirtschaftliche Entwicklung bremsen wollten. Er selbst brach als Parlamentsabgeordneter das Umweltgesetz und weigerte sich dann, die fällige Strafe von umgerechnet 2500 Euro zu zahlen. Als Präsident rächte er sich später an dem Ibama-Beamten, der ihn beim illegalen Fischen in einem Naturschutzgebiet erwischt hatte. Der Mann wurde degradiert.

Die ökologische Bedeutung des Amazonaswaldes scheint für Bolsonaro nicht begreifbar zu sein. Relevant sind für ihn die Rohstoffe. Mehrfach hat er zuletzt bekräftigt: „Wir werden den Amazonas ausbeuten. Er gehört uns!“ Immer wieder schwärmt er von den reichen Gold- und Mineralvorkommen in der Region, etwa Niob.

Zu Bolsonaros Standardankündigungen gehört auch, dass er die Indigenen-Reservate für Goldsucher und Minenkonzerne öffnen werde. Das verstößt zwar gegen die brasilianische Verfassung – aber Tausende illegale Goldsucher verstehen die Worte des Präsidenten als Aufforderung. Bis zu 20.000 illegale Goldgräber sollen verschiedenen Medienberichten zufolge bereits in den Yanomami-Park, eins der größten indigenen Reservate Brasiliens, eingedrungen sein. Sie seien gut ausgerüstet, heißt es, sie hätten Bagger und Kleinflugzeuge und finanzstarke Hintermänner.

Aber auch Holzfäller, Rinderzüchter, Großbauern und Landspekulanten fühlen sich von Bolsonaro ermutigt, immer weiter vorzudringen. Ein Großteil der neuen Rodungen geschieht in den Bundesstaaten Pará und Mato Grosso. Hier sind besonders mehrere Schutzgebiete im Becken des Rio Xingu betroffen, einem der größten Amazonaszuflüsse. Bislang galt die Region als natürliches Hindernis für die Agrarindustrie bei dem Versuch, ihre immensen Monokulturen immer weiter Richtung Norden auszudehnen. Mit der Schutzfunktion scheint es nun vorbei zu sein. Berichten zufolge dienen viele der gerodeten Flächen rund um den Xingu der Spekulation. Die „Grileiros“, so heißen die Spekulanten und Landtitelfälscher, lassen vordergründig ein paar Rinder auf den gerodeten Flächen grasen – und hoffen auf die Nachfrage der expandierenden Soja- und Mais-Industrie.

All dies geschieht zumeist mit dem Einverständnis von örtlichen Politikern und Sicherheitskräften. Die Amazonasregion ist in diesem Punkt mit dem Wilden Westen vergleichbar. Die Hauptstadt Brasília ist weit weg – vor Ort gelten eigene Regeln. Die Macht des Faktischen ist in diesen abgelegenen Regionen stärker als jedes Gesetz. Zumal das beste Gesetz nutzlos ist, wenn es nicht durchgesetzt wird – und sogar der Präsident und sein Umweltminister signalisieren, dass das auch gar nicht wünschenswert ist.

Ausländische Kritik an der illegalen Abholzung im Amazonasbecken wehrt Bolsonaro als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Brasiliens ab. Den Europäern wirft er vor, dass sie ihre Natur bereits der wirtschaftlichen Entwicklung geopfert hätten und nun Brasilien Vorschriften machen wollten. Er sei zwei mal über Europa geflogen und habe keinen Quadratkilometer Wald mehr gesehen.

Ende Juli provozierte Bolsonaro dann einen Eklat mit dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian. Er sagte kurzfristig einen Termin mit Le Drian ab und ging stattdessen zum Friseur. Le Drian war nach Brasilien gekommen, um Bolsonaro an die Einhaltung von Umweltstandards zu erinnern, wenn Brasilien seine Landwirtschaftsprodukte in die EU exportieren wolle. Bolsonaro blaffte, dass Macron und Merkel anscheinend noch nicht gemerkt hätten, dass Brasilien eine neue Regierung habe. „Ich habe die Wahlen gewonnen, verdammt!“, brüllte Bolsonaro zuletzt mehrfach Journalisten entgegen. „Weniger essen. Und nur noch jeden zweiten Tag kacken gehen“, empfahl er einem Reporter, der wissen wollte, wie das Land wirtschaftlich wachsen und dennoch seine natürlichen Ressourcen bewahren könne. Es ist das Niveau des Auseinandersetzung und illustriert den intellektuellen Horizont Bolsonaros.

Der zweite wichtige Faktor für die Zunahme der Rodungen ist die systematische Schwächung der Umweltbehörden durch die Regierung. Das Inpe ist hierfür ein gutes Beispiel. Sein neuer Chef ist jetzt der Luftwaffenoberst Darcton Policarpo Damião. In seinem ersten Interview bezweifelte er den Klimawandel und kündigte an, dass ab sofort sensible Daten zur Abholzung zuerst dem Präsidenten vorgelegt würden. Darüber hinaus hat Umweltminister Salles bereits angekündigt, ein privates Institut mit der Datenerhebung zur Entwaldung zu beauftragen.

Auch andere relevante Behörden wurden „diszipliniert“. Salles hat die Spitzen der Umweltbehörden Ibama und ICMBio komplett ausgetauscht „mit der Sichel beschnitten“, wie Bolsonaro schwärmte. Im ICMBio, das für die Überwachung und das Management verschiedenster Naturschutzgebiete zuständig ist, haben nun fünf Militärs das Sagen. Strafaktionen des Ibama gegen illegale Holzfäller sind praktisch suspendiert worden und bereits laufende Aktionen wurden abgebrochen. In einem Fall reiste Salles sogar zu Holzfällern in den westlichen Bundesstaat Rondônia, um sich für das Vorgehen des Ibama zu entschuldigen. Salles lobe die Holzfäller, die illegal Bäume in einem Indigenen-Reservat schlugen, als „gute Bürger, die produzieren“. Ein konkretes Ergebnis dieser Schwächung staatlicher Exekutivorgane: Laut Klima-Observatorium wurden 2019 in Brasilien so wenige Strafen für illegale Abholzung verhängt wie seit zehn Jahren nicht mehr. Dieses Versäumnis hat direkte Auswirkungen auf die Zunahme der Abholzungen. Wir haben bereits gesehen, wie die Durchsetzung der Umweltgesetze ab 2004 zu einer drastischen Abnahme der Rodungen führte.

Enorm wichtig für den Schutz des Waldes sind auch die Indigenen-Reservate, die rund 13 Prozent der Landesfläche Brasiliens ausmachen. Die größten und meisten von ihnen liegen im Amazonasbecken. Bislang galten sie wegen ihres von der Verfassung garantierten Status’ als Bollwerke gegen Eindringlinge. Aber auch das hat sich unter Bolsonaro geändert. Immer häufiger werden in diesem Jahr gewaltsame Konflikte zwischen Ureinwohnern auf der einen und Holzfällern und Goldgräbern auf der anderen Seite gemeldet. Oft gibt es Todesopfer.

Die Ureinwohner Brasiliens haben eine Behörde, die für ihre Belange und den Schutz der Reservate zuständig ist. Sie heißt Funai, und ist insbesondere bei Großgrundbesitzern verhasst, weil sie die Landansprüche der Indigenen gegenüber der Agrarindustrie geltend macht. Diese wiederum zählen zu den größten Unterstützergruppen Bolsonaros. Er hat das Problem nun für sie gelöst und den Polizisten Marcelo Augusto Xavier zum neuen Funai-Chef gemacht. Xavier hat beste Verbindungen zur Agrarindustrie und ihrer Lobby im Kongress. Besondere Kenntnisse der indigenen Völker Brasiliens hat er keine.

Bolsonaro selbst hat die Indigenen schon mit „Zoo-Tieren“ und „prähistorischen Menschen“ verglichen, die man „endlich ins richtige Brasilien integrieren“ müsse. Die Ausweisung neuer Indigenen-Reservate hat er am 1. Januar stoppen lassen, es war eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident. Die Schriftstellerin Eliane Brum hat es zugespitzt: „Es ist nicht so, dass die Großgrundbesitzer plötzlich in der Regierung säßen. Dort saßen sie schon immer. Heute sind sie die Regierung.“

Der Angriff auf die Ureinwohner und ihre zurückhaltende Lebensweise ist neben der Vernichtung des Urwalds wahrscheinlich die größte Tragödie, die sich in Brasilien derzeit abspielt.

Der dritte wichtige Faktor, der zur Waldzerstörung beiträgt, hat nur indirekt etwas mit der neuen Regierung zu tun. Die Amazonasregion funktioniert als eine Art Ventil für die sozialen Widersprüche Brasiliens. Schon seit Jahrzehnten strömen Menschen ins Amazonasbecken, die woanders vertrieben wurden oder keine Perspektiven mehr sehen. Diese Entwicklung begann bereits in den 1960er Jahren, als die Militärregierung die arme und größtenteils weiße Landbevölkerung Südbrasiliens ermutigte, im Norden neu anzufangen. Sie verkaufte den Siedlern Land zu Spottpreisen unter dem Motto: „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land.“ Dahinter steckte auch die paranoide Furcht der Militärs, dass ein „menschenleerer“ Amazonas leicht zur Beute ausländischer Mächte werden könnte, die es auf Brasiliens Ressourcen abgesehen haben.

Bis heute findet das Motto vom „Land ohne Menschen“ ein Echo bei Kleinbauern und Landlosen aus dem armen Nordosten, die auf der Suche nach Arbeit in den Amazonas kommen. Sie finden hier Arbeit in zig Berufen: als Goldsucher, Holzfäller, Tagelöhner, Lkw-Fahrer, Bauarbeiter oder Servicekräfte in den neuen Orten und Städten. Sie haben das Amazonasbecken in eine dynamische Wirtschaftsregion verwandelt, die sich schier unaufhaltsam ausdehnt. Das kann man insbesondere entlang der Straßen beobachten, etwa der Überlandstraße BR-163. Sie wird auch Soja-Highway genannt, weil fast ununterbrochen Lkw über sie donnern, die Soja und Mais von den gigantischen Feldern zu den Flusshäfen transportieren. Für viele der Neuankömmlinge bedeutet der Amazonas also die Möglichkeit auf ein besseres Leben. Der scheinbar immer noch unendliche Dschungel ist für sie eine Ressource, die es auszubeuten und zu dominieren gilt. Dabei stören die Indigenen und der Umweltschutz natürlich.

Jair Bolsonaro ermutigt diese Binnenmigranten. Als Hauptmann der Reserve sieht er seine Mission auch darin, das Besiedlungsprojekt der Militärdiktatur weiterzuführen. Und wie sie warnt auch er immer wieder davor, dass Umwelt- und Indigenen-Organisationen von ausländischen Agenten unterwandert seien, deren Ziel es sei, die Amazonasregion zu destabilisieren. Brasiliens Inlandsgeheimdienst Abin hat bereits katholische Bischöfe ausspioniert, die die Amazonas-Synode im Oktober mit Papst Franziskus vorbereiteten. In Rom soll es auch um die Bedrohung der Ureinwohner und der Schöpfung gehen.

Es ist deutlich geworden, dass sich im Amazonasbecken zurzeit ein Drama abspielt, das der Rest der Welt nicht mehr ignorieren kann. Das erste Opfer der Zerstörung ist jedoch Brasilien selbst. Ein Beispiel: Der Südosten Brasiliens leidet seit einigen Jahren unter enormer Trockenheit, weil es immer weniger regnet. Davon ist auch die gigantische Zuckerrohrindustrie im Bundesstaat São Paulo betroffen. Wissenschaftler warnen bereits jetzt davor, dass die Region, die auf demselben Breitengrad wie Namibia liegt, sich langfristig in eine Wüste verwandeln könnte. Für den ausbleibenden Regen machen sie den Rückgang der Wolkenbildung über dem westlichen Amazonasbecken verantwortlich, weil es dort keine ausreichend großen Waldflächen mehr gebe. Sie wurden für Viehweiden, Eukalyptusplantagen und Sojafelder abgeholzt. Früher wanderten die Wolken als sogenannter „Fluss in den Lüften“ an den Anden entlang Richtung Süden. Nun versiegt die Quelle.

Selbst für solche, recht einfach zu verstehenden Zusammenhänge hat Brasiliens Präsident jedoch kein Ohr. Er lebe offenbar, so schreiben es mittlerweile auch konservative Kommentatoren, in einer paranoiden Parallelwelt, in der Brasilien von Linken und allen, die er dafür halte, bedroht werde. Dazu zählen auch Wissenschaftler und Umweltschützer. Bolsonaros geschasster Präsidialamtschef hat gerade der BBC offenbart, dass das Umfeld Bolsonaros nur noch aus „Ja-Sagern“ bestünde, die „keine Bildung“ besäßen, dafür aber „ein hohes Maß an Aggressivität“.

Darauf muss also vorbereitet sein, wer mit Brasilien über den Klimawandel sprechen will. Im Wahlkampf 2018 kündigte Bolsonaro an, aus dem Pariser Klimavertrag auszusteigen. Geschehen ist danach nichts. Ende Juni verpflichtete sich Brasiliens Regierung dann zur Einhaltung des Vertrags. Der Grund: das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der südamerikanischen Handelsunion Mercorsur. Die EU hatte ihre Zustimmung an den Verbleib Brasiliens im Klimaabkommen geknüpft.

Allerdings müssen nun die einzelnen Länderparlamente sowie das EU-Parlament den Vertrag noch ratifizieren. Umso verwirrender ist es, dass ausgerechnet Brasiliens Außenminister Ernesto Araújo den Klimawandel immer wieder leugnet. Er hält ihn für Teil einer „kultur-marxistischen“ Verschwörung. Anfang August sagte Araújo vor Diplomaten: „Ich war im Mai in Rom und es war kühl. Ich glaube nicht an den Klimawandel.“

Man kann es als Ausweis von Inkompetenz, Chaos oder was auch immer betrachten, dass Brasiliens Regierung das Freihandelsabkommen, das sie selbst als Riesenerfolg für Brasiliens Großbauern gefeiert hat (neue Absatzmärkte für Getreide, Fleisch, Orangensaft, Kaffee), schon jetzt wieder aufs Spiel setzt. Denn insbesondere die Franzosen suchen nach Gründen, um den Vertrag nicht zu ratifizieren. Sie würden ihren Bauern gerne die Konkurrenz des Agrargiganten Brasilien ersparen. Die zunehmende Vernichtung des Amazonaswaldes ist das beste Argument für sie. Will der europäische Konsument wirklich Produkte, die auf Flächen gedeihen, auf denen kurz zuvor noch Dschungel stand und Ureinwohner lebten?

Die deutsche Bundesregierung hat nun erste Konsequenzen aus den Meldungen über die zunehmenden Rodungen gezogen und sich aus dem Amazonas-Fonds zurückgezogen, über den Deutschland und Norwegen Waldschutzprojekte in Brasilien finanzierten. Norwegen hat seit 2009 rund 1,2 Milliarden US-Dollar in den Fonds eingezahlt, Deutschland mehr als 68 Millionen Dollar. Der Fonds untersagt ausdrücklich Entschädigungszahlungen an Landbesitzer, weil dies der Landspekulation Tür und Tor öffnen würde (siehe oben). Genau dies hatte aber Brasiliens Umweltminister vorgeschlagen. Er wollte mehr Kontrolle über den Fonds ausüben. „Brasilien braucht die Kohle nicht“, ließ Jair Bolsonaro wissen. „Benutzt sie für was anderes.“

Es steht außer Frage, dass der Amazonaswald eine vitale Rolle für den Wasserhaushalt Südamerikas, die Artenvielfalt sowie die Stabilität des Weltklimas spielt. Das Amazonasbecken erstreckt sich über neun Länder Südamerikas und ist rund sieben Millionen Quadratkilometer groß. Rund 60 Prozent davon, 4,2 km², gehören zu Brasilien. Allein hier wurde in den vergangenen 50 Jahren eine Fläche von Größe der Türkei entwaldet; dennoch ist der Amazonaswald immer noch das größte zusammenhängende tropische Ökosystem der Welt.

Im Jahr 2017 emittierte Brasilien laut brasilianischem Klima-Observatorium rund zwei Milliarden Tonnen Treibhausgase. Damit gehört Brasilien zu den weltweit zehn größten Klimasündern. Das Klima-Observatorium ist ein Zusammenschluss von 37 Forschungseinrichtungen und Umwelt-NGOs. Für seine Analyse nutzt es das anerkannte System zur Schätzung von Treibhausgasemissionen, SEEG.

Interessant ist nun die Verteilung der Emissionen: Rund die Hälfte, also eine Milliarde Tonnen, entfiel auf veränderte Bodennutzung, wozu insbesondere die Abholzung zählt, bei der das in den Bäumen gespeicherte CO2 freigesetzt wird. Rund ein Viertel der Treibhausgase emittierte Brasiliens Landwirtschaft. Lediglich 390 Millionen Tonnen stammten aus der Energiegewinnung, womit Brasilien ein Sonderfall ist.

Der geringe Anteil hat vor allem damit zu tun, dass das Land zwei Drittel seine Stroms aus Wasserkraftwerk gewinnt. Fossile Brennstoffe machen bei der Stromgewinnung nur 16 Prozent aus, gefolgt von Biomassekraftwerken und Windenergie. Ebenso interessant: 65 Prozent der 43 Millionen Autos auf Brasiliens Straßen fahren mit Flex-Fuel-Motoren. Zehn Prozent werden mit Erdgas angetrieben.

Auffällig ist auch Brasiliens gute CO2-Bilanz pro Kopf. Der Per Capita-Ausstoß lag hier 2017 bei 2,35 Tonnen (im EU-Durchschnitt betrug er 6,97 Tonnen und in den USA lag er bei 15,74 Tonnen).

Im Pariser Klimaabkommen von 2015 hat sich Brasilien wie alle anderen Nationen dazu verpflichtet, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Brasiliens spezifischer Beitrag liegt in dem Versprechen seine Treibhausgasemissionen bis 2025 um 37 Prozent im Vergleich zu 2005 zu reduzieren. Bis 2030 wolle man eine Reduzierung um 43 Prozent erreichen.

Tatsächlich schien Brasilien bislang auf einem guten Weg zu sein, diese Ziele zu erreichen. Es lag an der Begrenzung der Entwaldungsraten in der vergangenen Dekade. So konnte Brasilien zwischen 2005 und 2012 seine Treibhausgasemissionen um sensationelle 54 Prozent reduzieren, wie der Professor für Umweltmanagement Raoni Rajão von der Bundesuniversität Minas Gerais begeistert sagt. Dies sei möglich gewesen, weil in diesem Zeitraum die Abholzung um 70 bis 80 Prozent zurückgegangen sei. Das CO-2 blieb somit in den Bäumen gespeichert. Laut einer Studie konnten so 3,2 Milliarden Tonnen CO2 aus der Atmosphäre gehalten werden. Der Effekt sei dreimal größer, als wenn der Autoverkehr in den USA für ein Jahr komplett ausgesetzt würde, schrieben Wissenschaftler 2014 in „Sciene“. Brasilien war ein Klimachampion. Kein Land fuhr schneller seine Treibhausgasemissionen zurück.

Diese Erfolge stehen nun komplett auf dem Spiel. Bereits im Jahr 2016 emittierte Brasilien wegen der gestiegenen Abholzungen wieder 218 Millionen Tonnen mehr CO2 als 2015. Das sei mehr als doppelt so viel wie Belgien an CO2 freisetze, sagt Ane Alencar vom Umweltforschungsinstitut des Amazonas, Ipam. Der Anstieg des CO2-Ausstosses für die Folgejahre dürfte noch drastischer ausgefallen sein, weil auch die Abholzungsrate wie gesehen quasi explodiert ist.

Die wichtigste Funktion des Amazonaswalds ist seine gigantische Kapazität CO2 zu speichern. Seine Milliarden von Bäumen halten Treibhausgase zurück, die 140 Jahren industrieller Aktivität entsprechen. Ihre Freisetzung würde einer „CO2-Bombe“ gleichen. Außerdem produziert der Wald rund ein Fünftel des weltweiten Sauerstoffs. Last not least, zirkuliert durch das Ökosystem des Amazonasbeckens ein Fünftel des weltweiten Süßwassers.

Die Yale School of Forestry and Environmental Studies hat errechnet, dass alle Tropenwälder gemeinsam 25 Prozent der weltweiten CO2 speichern, allein im Amazonasbecken seien es 140 Milliarden Tonnen. Der Wald und die Bäume haben in der Klimadebatte erst kürzlich wieder an Bedeutung gewonnen, weil eine Studie der ETH Zürich zu dem Ergebnis kam, dass eine Billion neu gepflanzter Bäume die Kapazität hätten, zwei Drittel der bereits freigesetzten CO2-Emissionen aufzunehmen. Da dies unrealistisch ist, betonen Wissenschaftler nun immer wieder die größere Bedeutung des Erhalts der bestehenden Wälder. Wie schwierige auch das ist, beweist das Beispiel Brasilien.

Der US-Biologe Thomas Lovejoy und der renommierte brasilianische Klimatologe Carlos Nobre haben ein erschreckendes Szenario entworfen. Sie glauben, dass das Limit der menschlichen Expansion in das Amazonasbecken und die Zerstörung des Walds bald erreicht sein könnte. Wenn der Wald zu 20 bis 25 Prozent zerstört sei, sagen sie, kippe das sensible ökologische Gleichgewicht der Region, die Wasserkreisläufe versagten und der Wald kollabiere. Das Amazonasbecken, eine der wasserreichsten Regionen der Welt würde dann versteppen.

Angesichts solcher Szenarien hat der Harvard-Professor Stephen M. Walt schon weiter gedacht. In einem Text für die Zeitschrift „Foreign Policy“ fragt er, was die Welt letztendlich zu tun gedenke, wenn abzusehen sei, dass die brasilianische Regierung den Amazonas immer weiter zerstöre und damit die Zukunft der Menschheit aufs Spiel setze. Es sei laut Walt nur noch eine Frage der Zeit, bis die Weltmächte alles tun würden, um den Klimawandel zu stoppen. „Wer wird in Brasilien einmarschieren, um den Amazonas zu retten?“, lautete der erste, provokante Titel des Aufsatzes. Er wurde später geändert in: „Wer wird den Amazonas retten (und wie)?“

Der provokante Text erschien fast zeitgleich mit einem Artikel im Magazin „The New Republic“. Darin wird Brasilien als größere Bedrohung für die globale Sicherheit als Iran und China beschrieben. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro tut zurzeit alles, um dem Magazin recht zu geben.