Das hinterhältige Virus

Das hinterhältige Virus

Brasilien kehrt zur Normalität zurück, obwohl die Corona-Infektionszahlen konstant bleiben. Einen freut das besonders: Präsident und Corona-Leugner Jair Bolsonaro. Ärzte warnen vor den Folgen der Öffnung. Andere trauern um Angehörige und Freunde, die an Covid-19 gestorben sind. Reportage aus einem Land im Zwischenzustand.

„Es wird eine zweite Covid-19-Welle geben“, sagt Virginia Corsini. Die 54-Jährige ist Ärztin in einem Krankenhaus in Duque de Caxias, einer Stadt, die nördlich von Rio de Janeiro in einer brütend heißen Ebene liegt. Die gelernte Neurologin absolviert gerade eine 24-Stunden-Schicht in der Notfallstation – sie ist an diesem Abend bereits seit 14 Stunden auf den Beinen – und die Müdigkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben, ihre Augen sind klein und liegen tief in den Höhlen. Seit Monaten gehe das schon so, sagt Corsini erschöpft.

Sie erinnert sich, dass die schlimmste Zeit der Pandemie zwischen April und Juni gewesen sei. Die Klinik sei von den vielen Covid-19-Fällen überfordert gewesen. Man habe Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen und auf dem Parkplatz ein Zelt aufgebaut, um die Toten ablegen zu können, die Kühlkammern seien voll gewesen. „Wir haben aus Mangel an Erfahrung viele Fehler bei der Behandlung gemacht“, sagt Corsini. „Das Virus ist hinterhältig, wir wissen noch immer zu wenig darüber.“ Zwar habe sich die Lage in den letzten Wochen entspannt. Aber das sei trügerisch.

Corsini führt in einem blauen Kittel und Maske durch die Klinikflure. Überall stehen Betten mit Kranken und Leidenden Viele sind nur notdürftig mit Laken bedeckt, keiner trägt Krankenhauskleidung. Einige sind an piepende Geräte angeschlossen, andere haben Windeln an, Männer und Frauen sind nur durch Stellwände voneinander getrennt. Es ist das Resultat eines chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystems in einem eigentlich reichen Land. Auch Verwundete mit Verbänden um Arme und Beine sieht man. „Schusswunden“, sagt Corsini. Duque de Caxias sei gefährlich.

Dann öffnet sie eine Schwingtür, dahinter liegt die Intensivstation, auf der zwei Dutzend Covid-19-Kranke an Atemgeräte angeschlossen sind. Man kann nur einen flüchtigen Blick erheischen, es ist eigentlich verboten, hier hereinzuschauen. In einem anderen Raum werden hinter einem Vorhang schwere Coronafälle behandelt, bei denen keine künstliche Beatmung nötig ist. „Noch nicht!“, sagt Corsini. Aus den Blicken der Erkrankten sprechen Angst, Verzweiflung und Resignation. „Ich habe mich daran gewöhnt“, sagt Corsini. „Man sollte nicht Ärztin werden, wenn man emotional nichts aushält.“

Wie alle ihre Kollegen in der Klinik hatte auch Corsini Covid-19. Sie blieb zwei Wochen zuhause und behandelte sich mit den Medikamenten Hydroxychloroquin, Ivermectin und Azithromycin. Eine Kur, deren Zweckmäßigkeit höchst umstritten ist – und die neben Donald Trump auch der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro empfiehlt. Das sei ihr egal, sagt Corsini: „Mir hat sie geholfen.“ Überhaupt will sie nichts von Politik wissen. „Ob linke oder rechte Regierung in Brasilien: Es gibt immer Korruption im Gesundheitswesen“, sagt sie. Die Pandemie sei eine optimale Gelegenheit für die Verbrecher gewesen.

Tatsächlich werden im Land nun immer mehr beschämende Korruptionsfälle bekannt. Im Bundesstaat Rio de Janeiro wurde etwa der Gesundheitsminister festgenommen. Er soll Geld bei der Beschaffung von medizinischem Gerät eingesteckt haben, es geht um eine Summe von sechs Millionen Euros. „Die Korruption ist mörderisch“, sagt Corsini. „Sie tötet Menschen, weil das Geld für Geräte und Personal fehlt.“

Daniel Benedito starb am 15. Tag seiner Hospitalisierung. Eingeliefert wurde der 54-Jährige wegen eines Hirnschlags. Die Ärzte maßen bei ihm hohes Fieber, er klagte zudem über den Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn. Er starb schließlich an einem „schweren akuten Atemwegssyndrom“ – so ist es auf seinem Totenschein eingetragen.

„Ich durfte ihn nicht auf der Intensivstation besuchen“, sagt sein Bruder Calebi Benedito. „Erst beim Begräbnis sah ich ihn wieder.“ Calebi glaubt, dass sein Bruder Covid-19 hatte, aber er wurde nie auf das Virus getestet, weil es keine Tests gab.

Benedito, ein kleiner und gedrungener Schwarzer Mann, sitzt auf einer Bank in der Favela Conjunto Cesar Maia. Sie liegt weit im Westen von Rio, in einer Region, in der nicht Drogengangs das Sagen haben, sondern Mafiamilizen die den lokalen Transport und die Immobilienwirtschaft kontrollieren. Benedito trägt eine Maske, die er auch nicht absetzt, als er für ein Foto posiert. Damit ist er die Ausnahme hier; die meisten Menschen, die man der Straße, in Geschäften und Restaurants sieht, ignorieren die Maskenpflicht, die in Rio herrscht. Nach einem halben Jahr Pandemie herrscht Sorglosigkeit.

Dabei sprechen die Statistiken eine deutliche Sprache. In der zweiten Augusthälfte stieg die Zahl der Pandemie-Toten in Brasilien auf über 110.000. Das sind mehr, als hier letztes Jahr durch Gewalt (42.000) und Verkehrsunfälle (30.000) ums Leben kamen. Die Dunkelziffer dürfte noch weit darüber liegen. Das haben verschiedene Studien ergeben. Auch Calebi Beneditos Bruder ist ein mögliches Opfer der Pandemie, das wegen fehlender Tests nicht in der Statistik auftaucht. Ex-Gesundheitsminister Nelson Teich sagt, dass er keine Zweifel daran habe, dass es mehr Covid-19-Opfer gebe als offiziell bekannt. „Die Frage ist nur, wie viele?“

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ist das gleich. Er äußert sich einfach nicht mehr zur Pandemie, ignoriert sie einfach. Selbst als 100.000 Tote erreicht waren, kam von ihm kein Wort des Bedauerns oder der Anteilnahme. Er versucht, seinen Namen von der Pandemie zu entkoppeln.

Man könne von Bolsonaro gar nichts anderes erwarten, sagt Calebi Benedito. Der Präsident sei unfähig, Mitgefühl zu empfinden. Zuletzt versuchte Bolsonaro, die Maskenpflicht in geschlossenen Räumen per Veto zu kippen, aber der Kongress überstimmte sein Veto

Calebi Benedito findet das richtig. Der 48-jährige Musiker hat nicht nur seinen Bruder an Covid-19 verloren. Auch ein enger Freund von ihm starb, Musiker wie er, er wurde 52 Jahre alt. „Ein athletischer Typ ohne Vorerkrankungen“, beschreibt ihn Benedito. Das Virus forderte auch das Leben des Ehemannes einer alten Schulfreundin von Benedito. Er war Pastor, erst 48 Jahre alt.

Calebi Benedito zog zu Beginn der Pandemie zu seiner Schwester und ihrer Tochter in die Favela, sie teilen sich hier ein kleines Apartment. „Ich konnte meine Miete im Zentrum nicht mehr bezahlen“, sagt er. Jahrelang arbeitete Benedito als Strassen-Schlagzeuger und verdiente umgerechnet zwischen 15 und 75 Euro pro Tag. Damit gehörte er zu den Millionen Brasilianern im informellen Sektor: den Straßenverkäufern, Putzfrauen, Hilfsarbeitern auf dem Bau oder Aushilfen in der Gastronomie, deren Gros die Favelas der Stadt bevölkert

Den meisten von ihnen brach in der Pandemie das Einkommen weg. So auch Benedito. Nun erhält er – wie 64 Millionen weitere BrasilianerInnen – eine Nothilfe der Regierung von monatlich 600 Reais, umgerechnet 100 Euro. Die Hilfe hat wahrscheinlich verhindert, dass in Brasilien größeres Elend und Hunger ausbrachen. Ebenso wichtig waren die Millionen von Lebensmittelpaketen, die von NGOs, Kirchen, Unternehmen und Privatinitiativen unter Brasiliens Armen verteilt wurden.

Die Nothilfe hat auch bewirkt, dass nun immer mehr arme Brasilianer in Meinungsumfragen angeben, dass die Regierung Bolsonaro „gut“ oder sogar „optimal“ sei. Angesichts seiner verantwortungslosen Corona-Politik mag das widersprüchlich erscheinen: Bolsonaro hat Covid-19 als „Grippchen“ heruntergespielt, das Menschen mit „athletischem Hintergrund“ wie ihm nichts anhaben könne. Er hat die Quarantänemaßnahmen der Landesgouverneure und Bürgermeister sabotiert, indem er die Bevölkerung dazu aufrief, wieder ihrem gewohnten Alltag nachzugehen. Als er dann selbst erkrankte, empfahl er den Brasilianer, sich wie er selbst mit dem Malariamittel Hydroxychloroquin zu kurieren.

Nun befindet sich Brasilien in einem seltsamen Zwischenzustand. Das Land macht wieder auf (und Bolsonaro bekommt letztendlich seinen Willen), obwohl die Kurve der Neuinfektionen und Toten konstant ist. Seit Monaten sterben täglich rund tausend Menschen an Covid-19. Der Schwerpunkt der Pandemie hat sich von den städtischen Zentren ins Hinterland der 210 Millionen-Einwohner-Nation verlagert.

Immer öfter trifft man nun Menschen wie Calebi Benedito, die Angehörige, Freunde oder Bekannte verloren haben oder selbst erkrankt waren, teilweise mit gravierenden Folgen. Manche berichten von andauernden Erschöpfungszuständen oder von Atemnot beim Treppensteigen. Aber die Pandemie hat nicht alle Brasilianer gleichermaßen getroffen. Eine im Wissenschaftsmagazin „The Lancet“ veröffentlichte Studie kam zum Ergebnis, dass schwarze (und damit zumeist ärmere) Brasilianer ein weitaus höheres Corona-Sterberisiko haben als weiße. Eine dunklere Hautfarbe stelle in Brasilien neben hohem Alter ein erhöhtes Risiko dar, so die Wissenschaftler. Sie führen dies in erster Linie auf den schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem zurück.

Trotz allem öffnen in Brasilien nun Fabriken, Büros, Restaurants, Geschäfte, Strände, Bars und Sehenswürdigkeiten wieder. Brasilien, so wirkt es, hat sich an Covid-19 gewöhnt. „Die Krankheit ist eine weitere unter vielen anderen Gefahren in Brasilien geworden“, sagt Virginia Corsini im Krankenhaus lapidar und streift sich ihre Handschuhe über. Ihre Pause ist vorüber.