Brasilien: Euer Schweiß, unser Blut

Brasilien: Euer Schweiß, unser Blut

„Ich möchte dem brasilianischen Präsidenten sagen, dass wir nicht länger warten werden. Wir werden unser Land besetzen. Die Bauern dürfen dort nicht sein.

Ich habe keine Angst. Sonst wäre ich nicht hier. Wir haben keine Waffen. Die Bauern haben Waffen und schießen auf uns. Sie haben Geld, um Politiker zu kaufen. Wir haben kein Geld, denn unser Geld ist im Himmel, und Gott wird uns den Himmel öffnen. Aber unsere Kinder haben Hunger und sind krank. Deswegen: Schluss! Unsere Vorfahren wurden hier geboren und begraben. Das Volk der Guarani Kaiowá war vor den Weißen hier. Sie haben uns in Reservate gesteckt. Dort können wir nicht leben. In den Reservaten werden unsere Seelen krank. Jetzt kehren wir auf unser Land zurück. Auf unser Tekohá!“

Der Mann sitzt auf einem Holzschemel. Er trägt Flipflops, ein blaues Hemd aus der Altkleidersammlung und einen Federschmuck, einen Cocar. Seine Hände hat er auf die Knie gelegt, er redet behutsam. Bis er sich an den Präsidenten wendet, da wird er laut und wütend, so als stünde er im Parlament in Brasilía. Um ihn herum hat sich eine Gruppe Frauen, Männer und Kinder gesellt. Sie stimmen ihm häufig mit spontanen Ausrufen zu.

Sein bürgerlicher Name ist Lider Solano Lopes. In seiner Muttersprache aber heißt er Apykaa Rendy: Erleuchteter Thron. Er ist 49 Jahre alt und der Anführer von rund 200 Indios vom Volk der Guarani Kaiowá. Seit acht Jahren besetzen sie ein kleines Stück Land im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Dort haben sie 60 Hütten aus Holz und Plastikplanen inmitten einer Eukalyptusplantage errichtet. Den Ort nennen sie Pyelito Kue und verlangen, dass die Regierung ihn zu einem indigenen Territorium erklärt.

Mehr als 120 solcher Landbesetzungen gibt es derzeit in Mato Grosso do Sul. In dem Bundesstaat im Südwesten Brasiliens leben 47.000 Guarani Kaiowá, es ist die zweitgrößte indigene Gruppe Brasiliens, 80 Prozent von ihnen sind in Reservaten untergebracht. Nun wollen viele zurück auf das Land ihrer Ahnen, die Tekohás. Denn in den Reservaten, sagen sie, herrschen Gewalt, Alkoholismus und Armut. Es sind Favelas für Ureinwohner.

Der Weg nach Pyelito Kue führt über eine kilometerlange verschlammte Piste. Sie ist der einzige Zugang zu der Siedlung, in der es weder Strom noch fließend Wasser oder ein Handynetz gibt. Im Grunde gibt es hier gar nichts außer windschiefen Hütten, sandigem Boden und einem weiten Himmel. Deshalb kündigt Erleuchteter Thron an, nun auch ein angrenzendes Sojafeld besetzen. Dort sei die Erde tief und rot und fruchtbar und man könne Maniok pflanzen, um sich zu ernähren.

Erleuchteter Thron holt weit mit dem Arm aus. In brüchigem Portugiesisch sagt er, dass das gesamte Gebiet ein Tekohá sei. Seine Vorfahren lebten hier, bevor die Regierung sie in Reservate steckte. Landbesetzungen wie in Pyelito Kue bezeichnen die Guarani Kaiowá deshalb stolz als „retomada“: Wiedernahme.

Es gibt nur ein Problem: Die Tekohás liegen auf Land, das heute Großbauern gehört, den Fazendeiros. Und diese schauen nicht untätig zu, sondern schicken Pistoleiros, um die Guarani Kaiowá von ihren Feldern zu vertreiben. Erleuchteter Thron berichtet wie Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma auf ihre Hütten geschossen hätten. Die Firma wurde mittlerweile aufgelöst.
Vor einem Jahr überfielen dann 200 Bewaffnete ein anderes Tekohá in der Region und töteten einen Indio. Fünf Fazendeiros sitzen deswegen in Haft. Nach dem Mord stoppten die Guarani Kaiowá einen Lkw mit Sojabohnen und vernichteten die Ladung.

Es findet in Mato Grosso du Sul die Fortsetzung eines Dramas statt, das so alt ist, wie Brasilien selbst: Weiße Siedler und Unternehmen konkurrieren mit den Ureinwohnern um Land und Rohstoffe. An vielen Orten Brasiliens hat sich der Konflikt extrem verschärft, etwa im Amazonasbecken. Die Wirtschaft drängt auf Expansion. Nirgends aber wird er so brutal ausgetragen wie in Mato Grosso do Sul im Grenzgebiet zu Paraguay.

Fast 400 Guarani Kaiowá sind hier seit 2004 getötet worden. Jedes Jahr wird eine ihrer Führungsfiguren ermordet, fast wöchentlich gibt es Zusammenstöße. Die Vereinten Nationen bezeichnen die Situation als „dramatisch“, und das EU-Parlament hat die Gewalt gegen die Ureinwohner verurteilt. Aktivisten fordern sogar ein Boykott von Produkten aus Mato Grosso do Sul, was aber unrealistisch ist. Die EU hat den Rindfleischimport von hier erst ausgeweitet und neue Abkommen über die Einfuhr von Soja getroffen.

„Die Invasionen der Indios sind illegal. Mit der Mehrheit von ihnen leben wir friedlich. Aber es gibt kleine gewalttätige Gruppen. Wenn sie meinen, das Land gehöre ihnen, sollen sie vor Gericht ziehen. Wir Bauern haben nichts wiedergutzumachen. Ich sehe keine historische Schuld der Weißen an den Indios. Die Mehrheit will doch so leben wie wir: mit Kühlschrank, warmer Dusche und Fernseher. Man muss sie also in die Produktionskette einbinden. Natürlich sind wir dagegen, dass einige Bauern ihre Pistoleiros losschicken. Aber wenn die Indios das Recht auf Eigentum nicht respektieren, sind sie selbst schuld. Die Indios töten Vieh und brennen Felder nieder. Die Opfer sind wir: die Bauern. Aber wir machen das Land urbar, schaffen Jobs und ernähren die Bevölkerung. Was will denn die Menschheit in Zukunft essen? Der Bauer wird als Waldvernichter hingestellt. Als Bandit. Aber in Europa habt ihr eure Wälder zerstört und wollt uns jetzt Vorschriften machen. Kein Bauer gibt sein Land freiwillig her. Unser Schweiß steckt in dieser Erde.“

Lúcio Damália spricht für 450 Fazendeiros. Er ist der Präsident der Bauernvereinigung von Dourados, dem Zentrum der Agrarwirtschaft in Mato Grosso do Sul. Damália ist 65 Jahre alt, braun gebrannt, schlank und groß. Der Nachfahre italienischer Einwanderer trägt ein weißes Hemd und Jeans. Man trifft ihn im Sitz der Bauernvereinigung. Sie besteht aus einem Bürogebäude auf einem weiten Ausstellungsgelände, auf dem Viehauktionen und Agrar-Messen stattfinden.

Zum Treffen hat Damália einen Anwalt mitgebracht, er müsse sich absichern. Andere Fazendeiros wollten sich nicht äußern, darunter auch der Bauer, auf dessen Land Pyelito Kue liegt.

Lúcio Damália lächelt und bietet Kaffee an. Er erzählt, wie er 1972 nach Mato Grosso do Sul kam, um Land zu kaufen: „Ich wollte arbeiten, etwas aufbauen.“ Heute besitzt er 300 Hektar Boden (ein Hektar misst etwas mehr als ein Fußballfeld), auf denen er Soja und Mais pflanzt. Damit ist Damália noch ein relativ kleiner Bauer. Manche seiner Kollegen haben 6.000 Hektar und mehr.

Mato Grosso do Sul gilt als Agrar-Kraftpaket. Es ist fast genauso groß wie Deutschland, hat aber lediglich 2,7 Millionen Einwohner, die meisten leben in einem Dutzend Städte. 85 Prozent der Landesfläche ist hingegen in der Hand von Großbauern. Diese Konzentration ist offensichtlich. Wenn man auf schnurgeraden Straßen durch die sanft gewellte Landschaft fährt, dann sieht man oft stundenlang nichts anderes als Sojafelder und Weiden, auf denen weiße Zebu-Rindern grasen.

Zu Deutsch heißt Mato Grosso do Sul: Dichter Wald des Südens. Doch Wald wächst hier kaum mehr. Der Dschungel musste Sojabohnen und 23 Millionen Rindern weichen. Und mit ihm die Indios. Lúcio Damália sieht das unsentimental: „Die Landwirtschaft ist der Motor Brasiliens.“

„Wie das mit den Selbstmorden kam, kann ich nicht erklären. Dort, vor dem Baum, habe ich Júnior gefunden, er war 15 Jahre alt. Er hatte einen Riemen um den Stamm gebunden, sich davor gekniet und stranguliert. Alle haben ihn gesehen. Auch seine Mutter. Zwei Wochen später strangulierte sich dann Júniors Bruder Osmar in seiner Hütte, er war 20 Jahre alt. Es passierten noch mehr Selbstmorde, alles Teenager. Einfach so, ohne irgendwelche Hinweise. Manche glauben, es hat mit Drogen zu tun. Andere sagen, dass die Jugendlichen unglücklich sind, weil sie nicht die Dinge aus dem Fernsehen kaufen können. Die Schamanan warnen, dass die Jugendlichen unsere Kultur verlieren. Das Leben hier ist schwierig. Wir haben kein Land, um etwas anzubauen. Jedes Rind hat mehr Platz. Und wir haben kein sauberes Wasser. Wir trinken aus dem Fluss, aber der ist voller Pestizide. Unsere Kinder kommen schon ganz dürr auf die Welt. Manch junger Mann arbeitet als Cowboy auf einer Fazenda, andere bauen Maniok an. Aber es ist nicht genug Land vorhanden. Jede Familie kriegt einmal im Monat einen Sack mit Reis, Bohnen und Öl von der Regierung. Aber meistens ist es nicht genug und es bricht Streit aus.“

Paulo Fiel ist Vorsteher im Reservat Sassoró. Der 47-Jährige trägt Jeans und Polo-Shirt und hat etwas Anpackendes. Alles an ihm ist breit, Hände, Rücken, Schädel. Er spricht mit tiefer Stimme, und wenn er lacht, scheinen die Hütten um ihn herum zu erzittern. Zwei Mal haben die Bewohner von Sassoró ihn schon zum Vorsteher gewählt.

3800 Ureinwohner leben in Sassoró, das aus Holzhütten und einigen Steinhäusern inmitten von Buschland besteht. Das Reservat wurde 1928 von der brasilianischen Regierung geschaffen. Sie zwang die Guarani Kaiowá damals in acht Reservate und gab ihr Stammesland an weiße Siedler. Auch die Vorfahren von Erleuchteter Thron aus Pyelito Kue wurden damals nach Sassoró gebracht. Das Tekohá ist nicht weit entfernt, es liegt jenseits eines Flusses, der schmutzig-braun durch die Landschaft mäandert.

Sassoró hält einen traurigen Rekord. Es hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Diese ist in den Reservaten enorm. 2015 lag sie bei 118 Suiziden pro 100.000 Menschen – und damit 21 mal höher als im Rest Brasiliens. Ebenso ungewöhnlich ist, dass sich vor allem junge Menschen das Leben nehmen. Eine schlüssige Erklärung für das Phänomen existiert bisher nicht.

Menschenrechtsgruppen wie der Indigene Missionsrat der katholischen Kirche (Cimi) machen Überbevölkerung und Perspektivlosigkeit verantwortlich. Der Cimi vergleicht die Situation in den Reservaten mit der von Flüchtlingscamps im Sudan und spricht von „humanitären Krisengebieten“.

„Die Indios sind faul. Die wollen nicht arbeiten. Wozu brauchen sie so viel Land?! In mein Restaurant kommen Landarbeiter, Bauern und Trucker. Da hört man tolle Geschichten. Von besoffenen Indios und Diebstählen. Viele Leute auf den Fazendas haben wegen der Invasionen ihre Arbeit verloren. Die fragt niemand, wie es ihnen geht. Die Indios produzieren nichts und lassen alles verwildern. Ich würde keinen von denen beschäftigen.“

Die Frau ist Anfang 50 und Chefin eines Restaurants in der Kleinstadt Antônio João nahe der Grenze zu Paraguay. Sie kam vor einigen Jahren hierher, um ein neues Leben zu beginnen. Sie möchte nicht, dass ihr Name öffentlich wird, denn das Thema sei doch heikel. Aber so wie sie denken hier viele Menschen.

In der Nähe von Antônio João liegt eine der größten indigenen Landnahmen in Mato Grosso do Sul. Sie heißt Ñanderú Marangatú und begann 1998, als die Guarani Kaiowá das Land von fünf Viehzüchtern besetzten, von deren Vorfahren sie in den 1950ern vertrieben worden waren. Es geht um eine Fläche von 9300 Hektar.

2005 erklärte die brasilianische Regierung das Gebiet zu einem indigenen Territorium, weil hier erwiesenermaßen ein altes Tekohá lag. Die Bauern sollten entschädigt werden. Aber 2015 machte der Oberste Gerichtshof in Brasília die Entscheidung rückgängig und ließ das Land räumen. Die Ureinwohner wurden an den Straßenrand gesetzt. Kein tolerierbarer Zustand, wie sie fanden – und das Land erneut einnahmen. Rund 3000 von ihnen leben seitdem in weit über die Landschaft verteilten Hütten mit kleinen Feldern davor. An vielen Stellen kommt die Natur zurück, Bäume und Hecken sprießen.

Nun liegt der Disput von Ñanderú Marangatú immer noch vor Gericht und eine Entscheidung ist nicht abzusehen. Das führt zu Spannungen. Mindestens vier Indio-Führer wurden in all den Jahren getötet. Der letzte 2015 mit einem Schuss in den Kopf, er war 24 Jahre alt. Der Mord geschah an einem Bach, der zur Fazenda der Viehzüchterin Roseli Ruiz zählt, der Chefin der hiesigen Bauernvereinigung. Als man versucht, mit der 60-Jährigen zu sprechen, lässt sie einen filmen. Den Mord schiebt sie auf Streit unter den Indios. Sie habe nicht ihr Leben lang geschuftet, um denen ihre Fazenda zu überlassen.

Als die Abenddämmerung hereinbricht, sitzen einige Guarani Kaiowá auf Plastikstühlen unter einem Mangobaum beisammen. Eine von ihnen sagt: „Die Bauern behaupten gerne, dass ihr Schweiß in dieser Erde stecke. Aber sie ist mit unserem Blut getränkt.“

– Die Recherche wurde mit einem Stipendium des Right Livelihood Award ermöglicht und von Survival International mit Rat unterstützt.