„Ja, und?! Was soll ich tun?“

„Ja, und?! Was soll ich tun?“

Jair Bolsonaro schreitet auf den Obersten Gerichtshof zu. Im Schlepptau hat Brasiliens Präsident die Chefs der wichtigsten Industrieverbände. Alle tragen Masken gegen das Corona-Virus, nur Wirtschaftsminister Paulo Guedes macht eine Ausnahme.

Foto: Palácio do Planalto

Brasilien ist an diesem Morgen kurz davor, die Marke von 10.000 Covid-19-Toten zu erreichen. Aber darum soll es heute nicht gehen. Jair Bolsonaro hat einen kleinen Coup vorbereitet, so glaubt er. Alles soll sich wieder einmal um ihn drehen.

Das Treffen zwischen Bolsonaro und den Wirtschaftsvertretern war für den Morgen im Präsidentenpalast anberaumt worden; man wollte beraten, wie die Regierung den Unternehmen in der Corona-Krise helfen könnte, die Brasilien extrem hart trifft: wirtschaftlich, gesundheitlich und gesellschaftlich. Dann schlug Bolsonaro zur Überraschung der Unternehmer vor, zum Obersten Gericht zu laufen.

Der Weg von seinem Amtssitz dorthin ist nicht weit, rund 300 Meter, die Gebäude liegen einander gegenüber. Hinter der Anordnung steckt wie im gesamten Regierungsviertel von Brasília eine tiefere, demokratische Symbolik: Judikative checkt Exekutive. Bolsonaro will heute den Spieß einmal umdrehen. 

Häufig hat er sich in den letzten Tagen über die Richter beschwert, weil sie ihm angeblich Steine in den Weg legten, etwa die Ernennung eines neuen Polizeichefs suspendierten. Tatsächlich wurde die Nominierung rückgängig gemacht, weil Bolsonaros Wunschkandidat ein Freund seiner Söhne ist – gegen die eben jene Polizei ermittelt. Es lag auf der Hand, dass Bolsonaro illegal Einfluss auf die Ermittlungen nehmen wollte. Dennoch drohte er, dass die Richter ihr Blatt nicht überreizen sollten.

Und so, als ob er sich rächen wollte, hat Bolsonaro heute auch erst in letzter Minute den Vorsitzenden des Obersten Gerichts über sein Kommen informiert. Ohne dessen Einverständnis, lässt er dann das Treffen mit ihm live streamen. Bolsonaro und die Unternehmer klagen darin über die „viel zu harten“ Quarantäne-Auflagen von Brasiliens Gouverneuren. Wirtschaftsminister Paulo Guedes warnt, dass Brasilien ein zweites Venezuela würde, wenn es so weiter ginge. Bolsonaro erklärt: „Es gibt etwas, das mehr wert ist als das Leben. Es ist unsere Freiheit.“

Seit Wochen geht das schon so. Der Präsident der bevölkerungsreichsten Nation Lateinamerikas spielt die Gefahr von Covid-19, dieses „Grippchens“, herunter und fordert die Menschen auf, wieder zu arbeiten. Dass er die Forderung nun im Obersten Gerichtshof wiederholt, ist allerdings ein Affront. Der Präsident will offenbar demonstrieren, dass er dort widerstandslos hinein marschieren kann. „Die Verfassung bin ich“, hat er kürzlich vor jubelnden Anhängern formuliert. Bolsonaro überschreite erneut die Grenzen, kommentieren Brasiliens Medien eher hilflos. In den sozialen Netzwerken feiern seine Fans ihn für den „genialen Schachzug“.

Gleichzeitig ist die Situation in Brasilien dramatisch. Die Zahl der Covid-19-Toten dürfte in dieser Woche 20.000 erreichen. Doch die wahren Opferzahlen dürften weitaus höher liegen, weil es zu wenig Tests gibt und viele Covid-19-Opfer nicht als solche registriert werden. Stattdessen wird „Pneumonie“ oder „Atemversagen“ auf dem Totenschein eingetragen. In manchen Orten soll die Dunkelziffer sieben mal höher sein, als es die Statistiken ausweisen.

Während sich die Pandemie in Europa zu verlangsamen scheint, nimmt sie Brasilien gerade erst Fahrt auf. Millionenstädte wie São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte haben den Notstand erklärt, in Manaus werden die Leichen in Massengräbern von Baggern zugeschüttet, weil die Totengräber überlastet sind. Den riesigen Favelas des Landes droht nun wegen der Enge und der Armut, die dem Virus hervorragende Bedingungen bieten, eine Tragödie; ebenso den Ureinwohnern, deren Immunsystem mit den Coronaviren noch schlechter klarkommt als das der Weißen. Manche Stämme könnten aussterben, warnen Experten.

Binnen weniger Tage ist Brasilien zum Epizentrum der Pandemie in Südamerika geworden. Eine Studie des Imperial College London bewies, dass das Land eine der höchsten Übertragungsraten der Welt hat. Von einer „tickenden Zeitbombe“ schreibt die „Washington Post“.

Aber den Präsidenten scheint all das nicht zu interessieren. „Ja, und?! Tut mir leid“, antwortete er kürzlich auf die Frage eines Reporters zu den vielen Toten. „Was soll ich tun? Ich bin zwar Messias, aber ich vollbringe keine Wunder.“ Das britische Wissenschaftsjournal „The Lancet“ bezeichnete Bolsonaro (der mit zweitem Vornamen wirklich Messias heißt), deswegen als „die vielleicht größte Bedrohung“.

Seit der erste Covid-19-Fall im Februar in Brasilien registriert wurde, spielt Bolsonaro das Virus herunter. Er führt lieber Kleinkriege gegen seine politischen Gegner. Neben den Obersten Richtern sind das zurzeit die Gouverneure Brasiliens, insbesondere die konservativen Länderchefs von São Paulo und Rio de Janeiro. Beide haben strikte Quarantäne-Maßnahmen erlassen und werden deswegen von Bolsonaro angegriffen.

Sie kuschten vor diesem „chinesischen Virus“, wirft er ihnen bei einer seiner vielen improvisierten Pressekonferenzen vor, während er mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft stößt. Als „Papageien“, „Spinner“ und „Diktatoren“ hat Bolsonaro sie bezeichnet. Ihre Quarantäne sei völlig „nutzlos“, sie ruinierte die Wirtschaft und damit Brasilien. „Was ist das Interesse?“, fragte Bolsonaro. „Sie wollen meine Regierung ruinieren.“ Er scheint sich nicht vorstellen zu können, dass es Dinge gibt, die nichts mit ihm zu tun haben.

„Bolsonaro ist ein typischer Populist“, sagt einer der wichtigsten Kolumnisten Brasiliens, der konservative Merval Pereira. Das Wohl des Landes sei ihm egal, es ginge ihm nur um den Machterhalt. In der Corona-Krise hat das reale, mitunter fatale Folgen. Denn offenbar um den Gouverneuren eins auszuwischen, hat Bolsonaro dekretiert, dass Schönheitssalons und Fitnessstudios „essentielle Wirtschaftszweige“ seien. Sie dürften trotz Quarantäne wieder öffnen. Die Bürgermeister verschiedener Städte kündigten daraufhin umgehend an, die Weisung nicht zu befolgen. Brasiliens Gesundheitsminister, Nelson Teich, erfuhr von dem Dekret erst von Journalisten – und war sprachlos. Wenige Tage später trat er entnervt zurück – nach nur 27 Tagen im Amt. Bolsonaro hatte ihn zwingen wollen, das umstrittene Medikament Hydroxychloroquin zu empfehlen. Teich, ein anerkannter Onkologe, sagte, dass er seine Karriere nicht beschmutzen wolle. Nun führt ein Armee-General das Gesundheitsministerium. Mehr als ein Dutzend weitere Militärs belegen untere Ränge in dem Haus, keiner von ihnen mit Expertise in dem Bereich.

Inmitten einer sich anbahnenden Gesundheitskatastrophe provoziert Brasiliens Präsident also ein institutionelles Chaos. Er sabotiert seinen eigenen Gesundheitsminister und die lokalen Autoritäten, die ihn wiederum ignorieren, um die Gesundheit der Bevölkerung nicht aufs Spiel zu setzen. Es wird klar, dass Bolsonaro diese ständigen Konflikte braucht, sie sind sein Treibstoff, er stünde still ohne sie.

Fast 30 Jahre lang saß Bolsonaro, ein ehemaliger Armee-Hauptmann,als Hinterbänkler im Parlament in Brasília. Seine Karriere baute er auf die Verteidigung der Militärdiktatur und Provokationen auf, etwa die Behauptung, dass 30.000 Linke getötet werden müssten, damit Brasilien anständig funktioniere. Erschreckend viele Menschen wählten ihn dennoch alle vier Jahre in seiner Heimat Rio de Janeiro. Bolsonaros Wählerbasis waren Militärs, Polizisten, Feuerwehrleute und rechtsradikale Milizen.

Bolsonaros großer Moment kam 2018, als Brasilien eine tiefe Wirtschaftskrise durchlitt und die politische Klasse von links bis rechts in Korruptionsskandale verstrickt war. In dieser Situation versprach Bolsonaro: Ordnung! „Ich werde ausmisten!“ Viele glauben ihm das bis heute.

Zum Beispiel Ludmila Quintas. Die Kinderärztin ist überzeugte Bolsonarista, sie hat ihn 2018 gewählt und würde es heute wieder tun. „Es gibt keine Alternativen“, sagt sie. Quintas gehört damit zu den 30 Prozent der Brasilianer, die laut Umfragen fest zu Bolsonaro halten, komme was wolle. Wären jetzt Wahlen, läge er in der ersten Runde vor allen Mitbewerbern. Trotz des Corona-Chaos.

Aber auch trotz der Zehntausenden Brände, die sich vergangenes Jahr durch den Amazonaswald fraßen und von Bolsonaro rhetorisch angefacht wurden. Und trotz der polizeilichen Untersuchungen gegen drei seiner vier Söhne – auch sie sind Politiker und er nennt sie im Militärjargon „01“, „02“ und „03“. Gegen sie wird wegen organisierter Kriminalität und systematische Verbreitung von Fake News ermittelt.

Aber es gibt für Quintas ein Argument, das stärker ist als alle anderen: „Bolsonaro ist der einzige, der nicht korrupt ist“, sagt sie am Telefon. Man hört das immer wieder in Diskussionen mit seinen Anhängern. Quintas ist auch felsenfest davon überzeugt, dass die Medien gegen Bolsonaro seien. „Sie übertreiben und verzerren alles“, sagt sie. „Auch die Corona-Pandemie.“

Quintas passt so gar nicht zum Klischee des dumpfen Bolsonaro-Wählers. Die 59-Jährige liebt das Theater und die Kunst, sie stammt aus einer Familie von Journalisten und Intellektuellen und leistet Freiwilligenarbeit. Ihr Beispiel macht umso deutlicher, warum das Phänomen des Bolsonarismus von Außen so schwer zu begreifen ist. Es war insbesondere die gebildete Mittel- und Oberschicht, die ihm ihre Stimme gab und bis heute zu ihm hält.

Zwar mag auch Quintas die ungehobelte Art des Präsidenten nicht. „Aber er ist authentisch, ehrlich und direkt“, sagt sie. Andere Politiker drückten sich zwar feiner aus. Es diene jedoch nur dazu, die Menschen an der Nase herumzuführen und öffentliche Gelder zu stehlen. Ähnliches sagen auch die Menschen, die sich täglich vor Bolsonaros Präsidentenresidenz versammeln. Es ist ein Ritual geworden, das auch den Grad seine Beliebtheit anzeigt: Wenn Bolsonaros Wagenkolonne morgens aus dem modernistischen Flachbau kommt oder am Abend dorthin zurückkehrt, hält sie stets vor dem Eingangstor zu dem Seegrundstück. Immer warten dann schon Dutzende Fans hinter einem brusthohen Gitter. Manche reisen von weither an, viele tragen das knallgelbe Trikot von Brasilien Fußballnationalteam.

Am Abend als Bolsonaro seinen vermeintlichen Coup im Obersten Gericht gelandet, bricht Jubel aus, als er mit seinen imposanten 1,85 Meter aus seiner Limousine steigt. So ist es auf verschiedenen Handyvideos festgehalten. „Unser Präsident beim Volk“, ruft eine Frau. Es werden Grüße aus den jeweiligen Heimatregionen vorgetragen, eine Anhängerin schildert ein Problem mit ihrer Corona-Hilfszahlung, eine andere sagt, dass der Präsident „sehr hübsch“ aussehe. „Das müssen deine Katarakte sein“, scherzt Bolsonaro und erzählt, dass er als Kind „verdammt hässlich“ gewesen sei.

Man merkt, dass Bolsonaro sich wohl fühlt unter den einfachen Leuten, so abgedroschen das klingen mag. Es werden Selfies und Videos gemacht und Bolsonaro kündigt augenzwinkernd an, „ein Verbrechen“ zu begehen. Er plane nämlich eine Grillparty in der Residenz für 30 Leute.

Niemand erinnert Bolsonaro hier an die Tausenden Covid-19-Opfer. Bis auf wenige Ausnahmen trägt niemand eine Maske oder hält die gebotene physische Distanz ein, auch der Präsident und seine Bodyguards nicht.

Und sogar die Journalisten stellen heute keine unangenehmen Fragen. „Halt den Mund, ich hab dich nichts gefragt“, hatte Bolsonaro vor wenigen Tagen einen Reporter an selber Stelle angebrüllt. „Halt den Mund, halt den Mund!“ Seine Anhänger fühlten sich animiert und schrien ebenfalls los: „Ihr seid verrückt!“ Einige schüttelten die Fäuste oder streckten ihre Mittelfinger aus.

Bolsonaros großes Vorbild ist US-Präsident Donald Trump. Von ihm haben er und sein Team gelernt, wie man im Internet Debatten setzt. Aber während Trump im richtigen Leben den cäsarischen Auftritt auf der großen Bühne liebt, mischt Bolsonaro sich viel lieber unter die Menschen auf der Straße, trinkt Kaffee in einer Bäckerei oder macht unterwegs an einer Tankstelle halt. Es ist seine große Stärke, er wirkt spontan und die Brasilianer mögen das.

„Er ist einer von uns“, verkündete etwa ein Lkw-Fahrer auf Youtube, nachdem zuletzt Impeachment-Forderungen gegen Bolsonaro laut wurden. „Wir legen Brasilien lahm“,droht er, wenn irgendjemand ihm wegen dieses „Corona-Schwindels“ an den Kragen wolle.

Insbesondere in den sozialen Netzwerken kann man nun beobachten, welche Folgen Bolsonaros Widerstand gegen die Quarantäne hat. Vom „Fake-Virus“ sprechen etwa die Mitglieder der Whatsapp-Gruppe „Konservative Rio de Janeiro“ mittlerweile. Sie hat 240 Mitgliedern und ist nur eine von Tausenden Pro-Bolsonaro-Gruppen in Brasilien, stündlich treffen rund 50 neue Nachrichten ein. Ein Teilnehmer erläutert beispielsweise per Audio, dass die Kommunistische Partei Chinas das Virus ersonnen habe, um Brasiliens Unternehmen in den Ruin zu treiben und sie anschließend aufzukaufen. Daher dürfe man die Quarantäne-Diktatur nicht länger mitmachen: „Bolsonaro hat recht!“

Tatsächlich ist nun zu beobachten, wie die Brasilianer sich immer weniger an die Auflagen der Lokalbehörden halten. Studien aus verschiedenen Städten zeigen, wie immer mehr Menschen auch die Straße gehen und das Gebot der physischen Distanz ignorieren.

Einmal, da war er schon Präsident, hat Bolsonaro in einer Late-Night-Show die langen Narben auf seinem Bauch gezeigt. Sie sind Folgen eines Messerattentats, das ihn 2018 fast das Leben gekostet hätte. Auf die Frage, was er in dem Moment gedacht habe, beginnt Bolsonaro zu weinen und das Publikum applaudiert spontan.

Man würde sich wünschen, der Präsident würde auch die Opfer der Corona-Pandemie ernst nehmen.