Panama: Eine Insel zieht um

Panama: Eine Insel zieht um

Loitza Brown braucht keine Klimastudien, um festzustellen, dass die Umwelt sich verändert. Die kleine, kompakt gebaute Frau steht unter gleißender Sonne auf einem Landungssteg und zeigt aufs türkisblaue Meer hinaus. „Jeden Winter wirft sich die Karibik mit mehr Wucht gegen unsere Insel“, sagt sie. „Es ist an der Zeit, fortzugehen. Sonst werden wir verschluckt.“

Loitza Brown ist Lehrerin und 41 Jahre alt. Genauso lange lebt sie schon auf der Insel Gardi Sugdub rund drei Kilometer vor der Küste Panamas. Auf Korallen gebettet, ragt das Eiland, das vom indigenen Volk der Kuna bewohnt wird, aus dem Golf von Guna Yala heraus. Wobei “herausragen” vielleicht ein Euphemismus ist, es sind gerade einmal 40 Zentimeter. Mit lediglich 300 Metern Länge und 150 Metern Breite ist die Insel zudem winzig. Den Launen des Meeres ist sie gnadenlos ausgesetzt. „Das Meer“, sagt Brown, „wird immer wilder.“

Man kann die Krabbeninsel, wie sie auf Deutsch übersetzt heißt, als Vorläufer für das betrachten, was sich auf der Erde anbahnt. Sie mag klein sein, aber wie durch ein Brennglas lässt sich hier beobachten, was im großen Maßstab schief läuft. Denn zum einen ist die Bevölkerung von Gardi Sugdub so stark angewachsen, dass kein Platz mehr da ist und die Natur durch die Versuche, Land zu gewinnen, enorm geschädigt worden ist.

Gleichzeitig versinkt die Insel langsam aber sicher in der Karibik. Daran, so haben Experten keinen Zweifel, ist der Klimawandel schuld. Erst vor wenigen Tagen teilte die Weltwetter-Organisation (WMO) mit, dass der Meeresspiegel 2018 um den neuen Rekordwert von 3,7 Millimeter im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist. Insgesamt hat sich der Meeresspiegel damit seit 1993 um rund acht Zentimeter erhöht. „Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren“, warnte UN-Generalsekretär António Guterres. Zu den ersten Opfern dieser Erderwärmung gehören die Kuna auf Gardi Sugdub. „Aber wir haben einen Plan”, sagt Loitza Brown. “Wir gehen an Land.“

Brown trägt die opulente Kleidung ihres Volks: ein schwarzer Rock, eine bunte Bluse mit Tiermotiven sowie ein knallrotes Kopftuch, welches für das Blut steht, das die Kuna seit der spanischen Eroberung vergossen haben. Ihre Waden und Unterarme sind von langen Perlenketten umfasst, in ihrer Nase glitzert ein goldenes Piercing. So ist es Brauch. Die Kuna sind bekannt für ihre kulturelle Eigenständigkeit und stolz auf ihre Traditionen. Nur Browns Flip-Flops und das Handy im Rocksaum lassen darauf schließen, in welchem Jahrhundert sie lebt.

Man könnte Brown nun als Fluchtbeauftragte von Gardi Sugdub bezeichnen. Sie selbst nennt es anders: „Ich bin eine der Verantwortlichen für die Umsiedlung aufs Festland.“ Im zwölfköpfigen Krisenrat, in dem die Kuna im Konsens entscheiden, wurde sie dazu ernannt. „Es ist keine leichte Aufgabe“, sagt die Mutter von vier Kindern, „denn es gibt ja keine Vorbilder, nach denen wir uns richten können.“

Die Kuna von Gardi Sugdub sind Klimaflüchtlinge – die ersten Migranten einer neuer Epoche.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren zwischen 50 Millionen und 200 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Die meisten leben wie die Kuna auf Inseln oder in Küstenregionen und betreiben zumeist Subsistenzwirtschaft. Das heißt, sie produzieren nicht viel mehr als für den Eigenbedarf nötig ist und verbrauchen auch nur geringe Mengen Energie. Sie sind also für den Klimawandel weitgehend unverantwortlich.

Drei Weltregionen werden laut Weltbank hauptsächlich betroffen sein: das subsaharische Afrika, das südliche Asien rund um Indien sowie Lateinamerika und die Karibik. Es geht um Kleinbauern in Bangladesch, Fischer in Mosambik und auf Samoa. Und Ureinwohner in Panama. „Der Klimawandel trifft uns Arme viel stärker als die Reichen“, sagt Loitza Brown. Das sei ungerecht.

Sie wendet sich vom Meer ab und geht zurück ans Ufer von Gardi Sugdub. Von der Idylle, die der Blick auf die glitzernde Karibik suggerierte, ist schlagartig nichts mehr übrig. Gegen den flachen Inselrand schwappt Müll: Plastikflaschen, Styroporteller, Kunststoffkanister, eine zerbrochene Klobrille, Strohhalme. Gleich darauf beginnt ein klaustrophobisches Labyrinth aus Holz- und Bambushäusern. Die Bauten der rund 1500 Kuna stehen Wand an Wand, es gibt so gut wie keinen Quadratmeter unbebaute Fläche mehr. Und wo man auch hinkommt, sind Menschen: rennende Kinder, Fischer mit Körben voller Krebse, palavernde Alte, Gruppen von Frauen bei der Handarbeit, uniformierte Schüler bei der Gymnastik, Bauarbeiter, die Cola trinken. Überall ist Leben und Bewegung. Nur Freiraum gibt es nicht, das Meer ist die Grenze.

Rund 1500 Menschen leben heute auf Gardi Sugdub, die Bevölkerung hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt – so wie auf dem gesamten Archipel von Guna Yala. Um Platz zu schaffen, haben die Kuna ihre Inseln stetig mit Korallen erweitert, die sie aus den umliegenden Riffen brachen und rund um ihre Inseln aufschichteten. Diese Form der Landgewinnung rächt sich jetzt, weil die zerstörten Riffe als natürliche Barrieren gegen das andrängende Meer ausfallen.

So verschärft die lokale Umweltzerstörung die Folgen des globalen Klimawandels. Auf Gardi Sugdub wurde deswegen beschlossen, diese Praxis zu beenden. „Wir gehen ja ohnehin wieder zurück ans Festland“, sagt Loitza Brown.

Ursprünglich sind die Kuna kein Inselvolk. Erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts zogen sie aufs Meer hinaus, weil sie giftigen Schlangen und Moskitoplagen in den Dschungeln Panamas entkommen wollten. Heute besiedeln sie rund 50 der 370 Inseln im Golf von Guna Yala, der wegen seines klaren Wassers und der unbewohnten Robinson-Crusoe-Eilande bei Seglern und anderen Reisenden beliebt ist. Der Tourismus wurde zur wichtigsten Einnahmequelle für die Kuna, die das Archipel autonom verwalten und für den Transport und die Vermietung von Unterkünften kassieren. Doch auch damit dürfte bald Schluss sein, weil das Meer immer häufiger über das Paradies schwappt.

„Im Winter 2008 ging es los“, erinnert sich Brown. Damals zogen heftige Stürme über den Golf von Guna Yala. Zwar ist starker Nordwind im November und Dezember nichts Ungewöhnliches, „aber 2008 war es schlimmer als alles, woran wir uns erinnern konnten“, sagt Brown. „Tagelang war Gardi Sugdub überschwemmt, in den Häusern stand das Wasser, wir wateten hindurch“, erzählt sie mit gerunzelter Stirn. „Die Ältesten beteten die ganze Zeit, damit das Meer sich zurückzieht.“

Seitdem kommen die Überschwemmung fast jedes Jahr. „Zuletzt stand das Wasser so hoch”, sagt Brown und hält ihre Hand einige Zentimeter über den Inselboden. „Es ist an der Zeit, zu gehen. Wir können nicht warten, bis die Industrieländer handeln. Es ist ja ein Wunder, dass wir noch nicht weggespült wurden.“

Browns Befürchtungen werden von der Wissenschaft gestützt. Laut der jüngsten Vorhersage des Weltklimarats IPCC wird die mittlere Erdtemperatur zwischen 2030 und 2052 um 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter ansteigen. Vorausgesetzt, es bliebe bei dieser konservativen Schätzung, würde dies zum Anwachsen der Meeresspiegel um 26 bis 77 Zentimeter führen. Andere Schätzungen, etwa von der US-Weltraumbehörde Nasa, gehen von einem Anstieg um 65 Zentimeter aus.

Der Anstieg hat allerdings fast nichts mit den schmelzenden Polkappen zu tun, sondern geht darauf zurück, dass das Meer mehr als 90 Prozent der überschüssigen Wärme aus der Atmosphäre absorbiert. Wärmeres Wasser wiederum hat mehr Volumen als kaltes und dehnt sich aus. So bewahren die Ozeane den Planeten einerseits vor einem noch rasanteren Temperaturanstieg. Und bedrohen die Menschen andererseits durch den Anstieg des Wasserspiegels.

Mit Sicherheit kann man also sagen: Gardi Sugdub wird im Laufe des 21. Jahrhunderts untergehen. Und so ist Rückzug wohl die vernünftigste Reaktion. Zumal das Guna-Yala-Archipel schon seit 1970 mindestens fünf Hektar an natürlichem Land verloren hat. Das entspricht circa fünf Fußballfeldern und mag wenig erscheinen. Aber die gesamte Landmasse des Archipels beträgt nur rund 100 Hektar.

Brown läuft über einen sandigen Pfad, macht Halt, um mit einer alten Frau zu sprechen, die vor ihrer Hütte hockt und ein Huhn rupft. Es gehört zu Browns Aufgaben als Umsiedlungsbeauftragte, die Bewohner von Gardi Sugdub über den letzten Stand der Planungen zu informieren und Unwillige zu überzeugen. „Die Alte Frau will nicht fort“, übersetzt Brown. „Sie sagt, dass sie lieber mit der Insel untergehen möchte, auf der sie ihr Leben verbracht hat.“ Aber so dächten nur ein paar Alte, beruhigt Brown. Der Umzug sei beschlossene Sache. Es gebe nur ein Problem: Panamas Regierung.

Brown betritt das Gemeindehaus, das auf der Inselmitte steht. Nur durch Ritzen zwischen den Brettern dringen Sonnenstrahlen in den fensterlosen Holzbau mit Blechdach. Hier, im Casa del Congreso, werden alle wichtigen Fragen der Insel besprochen und entschieden. Und es wird auch um spirituellen Beistand gebeten. Es sei so etwas wie Parlament und Tempel in einem, sagt Brown. Mehrere Bänke stehen zu einem Viereck angeordnet, von der Decke hängt ein Transparent herab: „Ein Volk ohne Traditionen ist ein Volk ohne Seele.“

Brown und die anderen Mitglieder des Umsiedlungsrats sind gekommen, um über den Umzug sprechen. Mal wieder. Zum Rat gehören Fischer, Händler, Lehrerinnen wie Brown und der Saila genannte Dorfsprecher, vergleichbar mit einem Bürgermeister. Brown beklagt, dass die Regierung in Panama-Stadt nur Lippenbekenntnisse abgebe, aber nicht handle und endlich die 300 versprochenen Häuser baue. So viele Familien ziehen von Gardi Sugdub aufs Festland. Die anderen Ratsmitglieder stimmen der Klage zu. Ohne Häuser kein Umzug. Es herrscht leichte Ratlosigkeit, denn niemand weiß so recht, was die nächsten konkreten Schritte sein könnten.

Dabei haben die Kuna im Gegensatz zu anderen Klimaflüchtlingen einen unschätzbaren Vorteil: Land. Den Indigenen gehört der gesamte Küstenstreifen des Golfs von Guna Yala, den sie seit einer Rebellion 1925 verwalten. So konnten sich die Kuna von Gardi Sugdub das Terrain für ihre neues Dorf quasi aussuchen. Es ist ein Hügel, der sich rund einen Kilometer im Hinterland erhebt. „Wir nennen ihn ,La Barriada’“, sagt Brown, es heißt: die Nachbarschaft. Doch viel zu sehen, gibt es dort bislang nicht. Denn die Kuna mögen Land besitzen, aber Geld, um darauf zu bauen, haben sie nicht.

Und so stehen in La Barriada bislang einzig die Grundmauern einer Gesundheitsstation und einer Schule mitten im Dschungel. Die Gebäude wurden mit Krediten der Interamerikanischen Entwicklungsbank begonnen, aber dann war das Geld verbraucht, und es kam der Baustopp. Das hatte einerseits mit Korruption bei der Baufirma aus Puerto Rico zu tun. Und andererseits mit dem fehlenden Interesse der panamaischen Regierung. „Sie hat keinen Plan für uns“, sagt Loitza Brown. „Wir brauchen ja auch eine Wasserversorgung, Strom und Straßen.“ Brown glaubt, dass man in Panama-Stadt die Dringlichkeit des Problems unterschätze.

Und so wollen zwar alle weg von Gardi Sugdub, aber von Aufbruch ist bislang noch nichts zu spüren. „Ich hoffe, wir bekommen die Umsiedlung bis 2020 hin“, sagt Loitza Brown. „Wir sollten wirklich nicht mehr lange warten.“ Denn mit dem Meer lasse sich schlecht verhandeln.

– Die Recherche wurde vom katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt.