Brasilien: Reben im Regenwald

Brasilien: Reben im Regenwald

Man rollt gemütlich über kurvenreiche Straßen, die Nachmittagssonne wirft ihr weiches Licht auf pittoreske Steinhäuschen, die Wegweiser führen zu Anwesen mit Namen wie Agostini oder Bolsoni. Als man an einer kleinen Kirche hält, um nach dem Abzweig zu den Pizzatos zu fragen, antwortet ein älterer Herr, der mit Hut, Hund und Zigarette auf der Bank davor sitzt, in einer Sprache, die man noch nie gehört hat.

Man glaubt, er rede einen verschollenen italienischen Dialekt und man sei irgendwo im Piemont gelandet. Ist aber falsch. Wir sind in Brasilien und auf der Suche nach den besten Weinen der Tropennation.

Diese kann es eigentlich nur an einem Ort geben. In der Serra Gaúcha, einem von Gott höchstselbst geschaffenen idyllischen Bergland im Bundesstaat Rio Grande do Sul, der ganz unten an Brasilien baumelt. Ab 1875 siedelten hier rund 90.000 Norditaliener (in den Ebenen hatten sich bereits deutsche Einwanderer niedergelassen), deren Nachkommen fast ausschließlich untereinander heirateten und bis heute ein Portugiesisch mit schwerem italienischen Einschlag sprechen. Außerdem haben sie über die Jahrzehnte die Techniken des Traubenanbaus und der Weinherstellung gepflegt. Die Ecke, in der sich die meisten Weingüter konzentrierten, erhielt schon bald den Beinamen Vale dos Vinhedos: Tal der Weinberge. Hier sind wir unterwegs.

Halt, stopp mal!, ruft nun jeder halbwegs informierte Leser. Guter brasilianischer Wein? Den gibt es gar nicht. Das ist ein Oxymoron, eine Formulierung sich widersprechender Begriffen. Guter Wein aus Südamerika, der stammt aus Argentinien und Chile. Wenn Brasilien für ein Getränk bekannt (und berüchtigt) ist, dann für den Zuckerrohrschnaps Cachaça.

Ja, das stimmte wohl, aber es sich etwas getan. Mit Beginn des neuen Jahrtausends haben sich fast unbemerkt vom Rest der Welt einige wagemutige brasilianische Winzer daran gemacht, Spitzenweine und Champagner zu produzieren. Ihre Unternehmen sind klein an Marktmacht, dafür groß an Hingabe und Tatendrang. Und auch um diese zu erleben, lohnt sich der Besuch der Serra Gaúcha, die so gar nichts mit dem Samba-Sonne-Strand-Brasilien der gängigen Vorstellungen zu tun hat.

Wie aber haben es die Winzer geschafft, sozusagen das Weinblatt zu wenden?

Jahrzehntelang dominierte in der Serra Gaúcha die amerikanische Traubensorte Isabel. Sie sicherte den armen und kinderreichen Weinbauern ein Auskommen. Man kelterte Saft, der in Brasilien in großen Mengen konsumiert wird. Der Wein wurde als „Tischwein“ verkauft, war mit anderen Worten nichts für Genießer. Kooperativen und eine Handvoll großer Familienunternehmen, die die Ernten der Kleinbauern aufkauften, dirigierten das Wirtschaftsgeschehen.

Das änderte sich mit dem Ende der 1990er Jahre, als im Vale dos Vinhedos einige junge Menschen beschlossen, etwas Neues auszuprobieren – und dennoch den Traditionen treu zu bleiben.

„Wir haben die Böden, wir haben das Klima, wir mussten nur das Weinmachen lernen“, sagt Flávia Pizzato. Die 46-Jährige begann 1998 mit einer Schwester und zwei Brüdern, den Familienbetrieb umzukrempeln. Sie machten aus den hängenden Weinreben senkrecht stehende, sie pflanzten neue Sorten an: Cabernet Sauvignon, Tannat, Merlot. „Es war unser Traum, den Weinbergen unseres Ur-Opas neues Leben einzuhauchen“, sagt Flávia Pizzato. „Sie stammten von 1890.“

Dann ließen die Pizzato-Geschwister die alten Fässer aus Araukarienholz demontieren, die „pipas“, die den Weinen der Region das Harzig-Schädelige verliehen. Sie ersetzten sie durch Edelstahltanks und Fässer aus französischer Eiche. In anderen Weinregionen der Welt war all das natürlich längst Standard. „In Brasilien dauern die Dinge etwas länger“, sagt Flávia Pizzato.

Einer ihrer Brüder, „der Ivo“, studierte damals Önologie und brachte es schnell zur Meisterschaft. Schon der erste Wein der Pizzatos, ein 1999er Merlot, war eine Überraschung. Damals begann man, brasilianische Tropfen zu testen, und die Premiere der Pizzatos schnitt so gut ab, dass die Zeitschrift „Veja“ aus São Paulo zu Besuch kam. Ehe sich die Pizzatos versahen, hatten sie ihre ersten 15.500 Flaschen verkauft.

Dann kam der Schock: Ivo Pizzato, der Önologe, stürzte mit dem Auto in einen Fluss und starb. „Wir haben uns danach in die Arbeit geflüchtet“, sagt Flávia Pizzato. „Wir wollten unbedingt das Vorurteil brechen, dass brasilianischer Wein nichts taugt. Das war auch Ivos Traum.“

Außerdem sprang Vater Pizzato ein, der sich jetzt mit einem verschmitzten Lächeln unter dem Schnauzer zu uns gesellt, kurze Jeans und die Plautze des Genießers trägt. „Ich wusste wenig von moderner Weinherstellung“, sagt Plinio Pizzato. „Aber mit der Pflege der Weinstöcke, da kannte ich mich aus: welche Traube zu welchem Boden passt, wie viel Kilo Trauben pro Rebe hängen dürfen, an welchem Tag die Ernte beginnen sollte.“

Vater und Tochter Pizzato stehen auf der Aussichtsterrasse des Weinguts, das am Rande eines Weilers liegt, der aus nicht viel mehr als einer Kirche besteht. Die Nachmittagssonne wirft ihre Strahlen auf die Rebstöcke, der Blick reicht über Wälder hinweg bis zu einer Felsenschlucht. Direkt neben den alten Familienhof haben die Pizzatos ein schlichtes modernes Gebäude gesetzt, in dem sie Gäste zur Weinprobe empfangen, dazu Käse, Salami und Brot reichen – auch deren Herstellung gehört zu den italienischen Traditionen der Region.

Flávia Pizzato entkorkt einen Merlot aus dem Jahr 2012. Darauf prangt ein Sticker: „94“. Es ist die Punktzahl, die der Wein vom renommierten Magazin „Decanter“ erhielt – die beste Note, die je ein brasilianischer Wein erzielte. Die Trauben stammten von dem Weinberg, auf dem schon der erste erfolgreiche Tropfen der Pizzatos gewachsen war. 2012 sei der letzte große Jahrgang gewesen, sagt Flávia Pizzato. Aber sie ist sich mit ihrem Vater einig, dass 2018 wieder ein Spitzenjahr wird.

Der Meinung ist ist auch Irineo Dall’Agnol. Der 51-Jährige steht mit wehenden Haaren und einer Flasche Brut in der Hand auf seinem Hügel: 550 Meter hoch, Majestätsblick. Er sagt, „wir hatten einen knackigen Winter und erleben einen trockenen Sommer. In der Nacht waren es zwölf Grad, jetzt sind es 35.“

Dall’Agnol arbeitete für das brasilianische Landwirtschaftsministerium, Sektion Wein, als er 2005 mit einem Freund entschied: Wir machen Champagner. Sie kauften Weinberge und ein Bungalow auf einem Hügel, das zum Hauptquartier ihrer Firma wurde. Sie nannten sie „Estrelas do Brasil“, Sterne Brasiliens, nach einem Zitat des Benediktinermönchs Dom Pérignon, in dessen Abtei der Champagner entstand. „Ich trinke Sterne“, soll er gesagt haben. „Wir wollten anders sein“, sagt Dall’Agnol, „wir wollten uns nicht den üblichen Familiennamen geben.“

Unter einem weiten Himmel reicht Dall’Agnol nun seine spritzigen Bruts mit Aussicht, seine Gäste picknicken auf dem Rasen und lassen Gott einen guten Mann sein. Ihr Blick fällt auf eine von Flüssen durchzogene Landschaft, die mit ihren Höfen, den die Hügel sich hinaufschwingenden Weinbergen und kurvigen Sträßchen fast an den Rheingau erinnert. „Aber wir haben etwas Einzigartiges“, sagt Dall’Agnol. „Unsere Trauben gedeihen inmitten von atlantischem Regenwald, das gibt es nirgends sonst auf der Welt.“

Tatsächlich sind rauschende Palmen zwischen Weinbergen ein eher ungewohntes Bild. Und auch den Tukan, der jetzt vorüber fliegt, würde man in Eltville eher nicht erwarten. Und noch etwas kann man von hier oben gut erkennen: Die kleinbäuerliche Struktur der Region, die in Brasilien mit seinen riesigen Latifundien leider eine Ausnahme ist.

Die Bruts von Estrelas do Brasil sind „nach traditioneller Methode“ flaschengereift, einige sind bereits zwölf Jahre alt. Und auch sie gehören zum besten, was Brasiliens Winzer zu bieten haben, werden regelmäßig prämiert. Kenner beschreiben sie als ungewöhnliche Experimente, die einen mit unerwarteten Aromen und Farben aus der Komfortzone des erwarteten Geschmacks holten. Dennoch will Dall’Agnol sie nicht groß vermarkten, sie sind einzig über das Internet erhältlich.

Dall’Agnol, der in Aussehen und Enthusiasmus an den jungen Gérard Depardieu erinnert, setzt sich einen Hut auf und bittet, ihm zu folgen. Er führt einen Pfad entlang, der von üppigen hellblauen Hortensien gesäumt ist. Hier liege die Zukunft, sagt er. Man werde in den Berghang Ferienhäuschen integrieren und einen Öno-Tourismus etablieren.

Etwas weiter kommen wir zu einem in der Sonne brütenden Weinberg, Pinot Noir, auf den Dallagnol besonders stolz ist. „Wir haben hier acht Jahre lang weder Dünger noch Pestizide verwendet“, sagt er. „Mir zeigt das, wie intakt das natürliche Gleichgewicht bei uns ist.“

Ein Mann, der auch großen Wert darauf legt, dass das Ökologische im Gleichgewicht ist, sitzt eine halbe Stunde Fahrt entfernt unter einer Weinrebe und kitzelt seine Tochter. Er nennt sie „Sekretärin“, sie quietscht.

Jorge Mariani ist wie die Pizzatos und Irineo Dall’Agnol ein Neuerer und Wager im Tal der Weine. Der füllige 58-Jährige, der lacht wie ein großes Kind, ist hier der Ökopionier. Im Jahr 2002, als in Brasilien niemand wusste, wie man „orgânico“ überhaupt schreibt, begann Mariani seine Produktion auf Bio umzustellen. „Ich habe ja gesehen, was die Pestizide anrichteten. Die meisten Kollegen hatten keine Ahnung, wie man sie dosiert und wie man sich schützt.“

Jorge Mariani lebt und arbeitet auf dem Land, das seine Familie 1884 von der brasilianischen Regierung zugewiesen bekam. Im Gegenzug musste sie bei der Erschließung der Region helfen, etwa beim Straßenbau. Der knorrige Weinstock unter dem er sitzt, erzählt Mariani, sei von seinem Urgroßvater gepflanzt worden. Die Pflanze sei bestimmt 100 Jahre alt.

Mariani wurde hier 1961 „in die Armut einer vielköpfigen italo-brasilianischen Bauernfamilie hineingeboren“, wie er sagt. Er studierte zunächst Önologie, sah darin aber keine Zukunft, weil er miterlebte, wie die Kooperativen der Region niedergingen. Jahrelang arbeitete er in der Metallindustrie. Bis er 1998 einen Kurs über ländlichen Tourismus und Biolandwirtschaft belegte.

„O maluco“, den Verrückten, nannten die anderen Bauern Mariani, als er begann, das Erlernte umzusetzen. „Unsere Gegend war damals touristisches Niemandsland“, erinnert er sich. Aber die Marianis empfingen die ersten Gäste, zeigten ihnen den alten Hof mit den historischen Möbeln, führten sie durch die Weinberge, die Kelterei. Bis heute seien die Gäste begeistert von der kleinen Kultur- und Zeitreise, sagt Mariani. „Viele wissen ja nicht mehr, wie das Leben auf dem Land ist.“ Und kaum ein Brasilianer hätte Ahnung vom ökologischen Landbau. „Ich sage dann immer: Das Hauptziel jedes Wirtschaftens muss das Wohlergehen von Mensch und Natur sein.“

Es ist also kein Zufall, dass Jorge Mariani Präsident der 60-köpfigen Biobauerngemeinschaft von Garibaldi ist, der Kleinstadt im Zentrum des Vale dos Vinhedos. Sie wurde nach dem italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi benannt, der sich hier in den 1830er Jahren an der Farrupen-Revolution für die Unabhängigkeit Südbrasiliens vom Kaiserreich beteiligte. Den meisten Brasilianern fällt zu Garibaldi dennoch als erstes „Hauptstadt des Schaumweins“ ein, offizieller Beiname der Stadt und feuchtes Versprechen.

Marianis Tochter Julia, die mit großer Nase und enormen blauen Augen ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, öffnet die alte Scheune. Sie betreut den Verkaufs- und Probierraum der Marianis. Der Wein geht zwar höchstens als Tischwein durch, aber die Traubensäfte sind Spitze. Große Supermarktketten hatten sie schon im Sortiment, aber Jorge Mariani mochte deren Geschäftsgebaren nicht und verkauft heute nur noch lokal. Und so probiert man sich durch – Julia reicht Marmeladen und Brot –, und lauscht den Geschichten Jorge Marianis von früher als der Wein und das Leben hier noch „nichts Schickes“ hatten.

Als die Abenddämmerung sich über das Gehöft legt, sagt Mariani, dass die Region ja deswegen heute so erfolgreich sei, weil man sich die italienische Dickköpfigkeit bewahrt habe. Er selbst ist – wie die Pizzatos und Irineo Dall’Agnol – ein gutes Beispiel dafür.

Adressen

Pizzato Vinhas e Vinhos
Via dos Parreirais
Santa Lúcia
Vale dos Vinhedos, Bento Gonçalves
Tel/Fax: +55.54.305.504.40
www.pizzato.net
Geöffnet tgl. 10-17 Uhr

Estrelas do Brasil
ERS 431, Km 4,2
Faria Lemos
Bento Gonçalves
Tel: +55.54 999.241.016
www.estrelasdobrasil.com.br
Besuch nach Vereinbarung

Familia Mariani
Linha Marcílio Dias
Via Trento
Tel: +55.54.999.997.52
www.estradadosabor.com.br/jorge_mariani
Besuch nach Vereinbarung

Weitere lohnende Weingüter

Casa Pedrucci
Linha Presidente Soares
Serra Gaúcha
Garibaldi
Tel: +55.54.346.249.48
www.casapedrucci.com.br
Besuche nach Vereinbarung

Miolo Wine Group
Estrada do Vinho, RS 444, Km 21
Vale dos Vinhedos
Bento Gonçalves
Tel: +55.54.210.215.00
www.miolo.com.br
Tgl. geöffnet 8-17 Uhr

Lidio Carraro Vinícola Boutique
Estrada do Vinho, RS 444, Km 21
Linha 40 da Leopoldina
Vale dos Vinhedos
Bento Gonçalves
+55.54.210.525.55
www.lidiocarraro.com
Tgl. geöffnet 9-17:30 Uhr

Übernachten

Pousada Borghetto Sant’Anna
Via Trento, 868
Vale dos Vinhedos
Bento Gonçalves
Tel: +55.54.345.323.55
www.borghettosantanna.com.br

Hotel Mosteiro São José
Rua Buarque de Macedo, 3590
Garibaldi
Tel: +55.54.346.217.03

Home

Sitio Crescer
Rua. A
Garibaldi
Tel: +55.54.981.112.204
www.sitiocrescer.com.br

Essen

Osteria della Colombina
Comunidade Linha São Jorge.
Tel: +55.54.346.477.55
www.estradadosabor.com.br/odete_bettu
Reservieren!

Primo Camilo
Av. Rio Branco, 1080
Garibaldi
Tel: +55.54.346.233.33
www.primocamilo.com.br

Restaurante Casacurta
Rua Luiz Rogério Casacurta, 510 
Garibaldi
Tel: +55.54.346.221.66
http://www.hotelcasacurta.com.br