Wildhüter der Großstadt

Wildhüter der Großstadt

Wie keine zweite Metropole der Welt liegt Rio de Janeiro in der Wildnis – und die Wildnis liegt in Rio. Im Stadtgebiet leben Affen, Anakondas, Kaimane, Faultiere und sogar Pumas wurden schon gesichtet. Aber die Natur ist bedroht, weil die Stadt unaufhaltsam wächst, oft illegal. Ein Tierarzt und zwei Biologen kämpfen gegen die Zerstörung.

Als Jefferson Pires das Tor zu seiner Klinik aufstößt, glaubt man, in der Arche Noah gelandet zu sein, so viele Tiere sind da. In einer Voliere sitzen Habichte, Geier und ein stolzer Weißschwanzbussard. Aus Käfigen beäugen einen Affen, Faultiere, Leguane, Gürteltiere, Ameisenbären, Wasserschweine und Eulen. Auch ein Fuchs kauert in einem Verschlag. „Ich musste ihm eine Pfote amputieren“, sagt Jefferson Pires. „Sie war zerquetscht. Vielleicht wurde er von einem Auto angefahren.“

Pires, ein durchtrainierter Typ mit Vollbart und Glatze, ist Veterinär und Chef des Rehabilitationszentrums für Wildtiere (CRAS) in Rio de Janeiro. Tausenden Tieren hat er schon das Leben gerettet: vom fünf Gramm schweren Kolibri bis zur 250 Kilogramm-Schildkröte. Eine Zeitung hat den 40-Jährigen mal als den „Dschungeldoktor von Rio“ bezeichnet.

Neun verletzte Tiere werden täglich im Schnitt zu Pires gebracht, meistens von Rios Umweltpatrouille. Deren 15 Beamte sind rund um die Uhr im Einsatz und können von Bürgern alarmiert werden, die Wildtiere in Not gefunden haben. Erst am Abend zuvor lieferten sie eine zwei Meter lange Anakonda mit Verbrennungen ein. Sie liegt nun auf dem OP-Tisch. Pires gibt ihr eine Narkose, um sie zu waschen und einzucremen. Aber sie wird den Tag nicht überstehen.

Es mag verblüffen, aber all diese Tiere sind Großstadtbewohner. Wie keine andere Metropole der Welt liegt Rio in der Wildnis und die Wildnis liegt in Rio. Es kann hier passieren, das morgens ein paar Krallenäffchen auf dem Balkon vorbeischauen, am Mittag ein Tukan krächzend im Baum gegenüber sitzt und sich am Abend zwei Opossums um das Katzenfutter streiten.

Ermöglicht wird diese Artenvielfalt durch eine einzigartige Topographie, die zahlreichen Arten eine Nische bietet: bewaldete Bergketten, spektakuläre Felsformationen, ausgedehnte Gewässer. Mit dem auf 1021 Meter aufragenden Nationalpark von Tijuca und dem Pedra-Branca-Schutzgebiet besitzt Rio den größten innerstädtischen Dschungel der Welt, kürzlich wurde hier sogar ein Puma gesichtet.

Das alles ist umso verblüffender, weil es im 19. Jahrhundert keinen Wald in Rio mehr gab. Er war für Kaffeeplantagen gerodet worden. Als der Kahlschlag zu Trockenheit führte, beschloss Kaiser Dom Pedro II. 1862 die Wiederaufforstung. Es war das erste große Bewaldungsprojekt der Welt.

Aber heute ist die Wildnis wieder in Gefahr. Denn Rio mit seinen zwölf Millionen Einwohnern dehnt sich unaufhaltsam aus. Immer dichter drängt die Stadt an die Ufer der Lagunen heran, immer tiefer expandiert sie in den Wald. Es werden Wohnblocks errichtet, Favelas entstehen, Bäume werden gefällt. Und immer mehr Abfall landet in der Umwelt. Allein Rios Guanabara-Bucht muss pro Tag 90 Tonnen Müll verkraften, der hinein geschwemmt wird.

Jefferson Pires versucht die Tiere zu retten, die bei dieser Attacke des Menschen auf die Umwelt unterliegen: um Affen, die Stromschläge an schlecht isolierten Leitungen erleiden; um Wasserschweine, die von Booten gerammt werden; um Kaimane, deren Mägen voller Plastik sind; um Vögel, die in die Schnüre von Papierdrachen fliegen. Sie alle sind Opfer einer Entwicklung, die weltweit stattfindet: die Verstädterung. In Lateinamerika ist sie besonders rasant. Hier leben bereits 71 Prozent der Menschen in Städten, Tendenz steigend.

Ein Tier, das sich in Rio bislang nicht unterkriegen lässt, ist der Kaiman. „Er ist ein Anpassungskünstler“, sagt Ricardo Freitas. „Sonst wäre er nicht schon seit 200 Millionen Jahren auf der Erde.“ Freitas, ein kleingewachsener aber umso muskulöserer 41-Jähriger, ist Gründer des Instituto Jacaré. Dessen Ziel ist die Erforschung und der Schutz der rund 6000 Kaimane Rios. Immer häufiger wird er angerufen, weil die Reptilien in Swimmingpools, Gärten und auf Golfplätzen auftauchen. „Wir sind in ihre Habitat vorgedrungen, nicht sie in unsere“, betont er.

Die meisten von Rios Kaimanen leben in den großen Lagunen im Westen der Stadt. Aber diese gleichen immer mehr Latrinen, weil die Abwässer von hunderttausenden Menschen ungeklärt hineinfließen. Von den einst 1000 heimischen Tierarten sind nur noch rund ein Dutzend übrig. „Es sind diejenigen, mit den besten Nehmerqualitäten“, sagt Freitas, „Silberreiher, Wasserschweine, Kaimane.“

Bei einer Fahrt über die Lagunen ist man geschockt vom Müll: unzählige Plastikflaschen und Tüten, aber auch Sofas, Kühlschränke und Autoreifen. An vielen Stellen steigt ein übler Gestank auf, der von den Zersetzungsprozessen der Fäkalien stammt. Paradoxerweise fühlen sich die Kaimane hier besonders wohl, weil die Fäulnis Wärme erzeugt. „Es hat den Effekt, dass überproportional viele Männchen geboren werden“, sagt Freitas. „Eine höhere Temperatur der Eiergelege begünstigt das Entstehen von Männchen.“

Beunruhigt ist er auch, weil mittlerweile 70 Prozent der Kaimane Plastik im Magen haben. „Ihre Bäuche schwellen an, und die Leute denken, die Tiere seien gut genährt.“ Aber einen gesunden Kaiman erkenne man am kräftigen Schwanz.

Bei Einbruch der Nacht bricht Freitas auf, um Kaimane zu markieren. Von einem Boot aus fängt er die Tiere mit einer Schlinge und schneidet ihnen mehrere Schuppen aus dem Schwanz. So kann er sie immer wieder identifizieren. Die Schuppen untersucht er im Labor auf Schadstoffe.

Sein Institut finanziert Freitas durch Kaiman-Kurse und Exkursionen. Wie wichtig diese Aufklärung ist, zeigt ein Ereignis wenige Tage später: Im Uferdickicht entdeckt ein Fischer ein Dutzend getöteter Kaimane. Offenbar hatten Jäger sie dort abgelegt, um später ihr Fleisch zu verkaufen. „Rio ist in großen Teilen ein rechtloser Raum“, sagt Freitas.

Der Biologe Mario Moscatelli bestätigt das. Er wurde bekannt, als er auf eigene Faust Mangroven an Rios Küsten pflanzte. Das passte Rios Immobilienmafia nicht, die illegal auf öffentlichem Land baut und immer näher an die Küsten drängt. Der Staat ignoriert ihr Treiben, weil sie stark bewaffnet ist und korrupte Politiker und Beamte in ihren Reihen hat.

Mario Moscatelli bekam Morddrohungen, als er die Mafias vor einigen Jahren öffentlich kritisierte. Zur Sicherheit ging er für einige Zeit nach Deutschland. „Heute ist die Situation für nicht mehr so schlimm, weil ich bekannt bin“, sagt der 56-Jährige. Ein Shoppingcenter hat ihn zwar vor kurzem verklagt, weil er publik machte, das es seine Abwasser nicht klärt. „Aber das kann ich ab“, sagt Moscatelli.

An einem sonnigen Dienstagmorgen sitzt er auf dem Co-Pilotensessel eines Helikopters, um seinen monatlichen Rundflug über Rio zu unternehmen. So dokumentiert er Umweltsünden. Mit jedem Flug werde es krasser, sagt er, Rio sei ein Paradies, das sich langsam in eine Hölle verwandle.

Von oben zeigt Moscatelli auf die Müllbarrieren, die auf sein Betreiben hin an mehreren Stellen in Flüssen und Lagunen installiert wurden. An einer sammelten sich binnen acht Wochen 120 Tonnen Abfall. „Ich bin Biologe“, sagt Moscatelli. „Und Müllmann!“

Dann macht der Pilot einen Schwenk, es geht über den Zuckerhut direkt auf die Baía de Guanabara zu, eine der größte Meeresbuchten der Welt. Der Helikopter kreist über einem grasbewachsenen Hügel in der Nähe des internationalen Flughafens. Unter dem Grün liegt der Lixão do Gramacho, die einst größte Müllhalde Südamerikas, 2012 wurde sie nach 34 Jahren zugeschüttet, weil giftige Schlacke austrat. Heute wachsen am Fuß des Hügels große Mangrovenwälder, deren erste Setzlinge einst von Moscatelli gepflanzt wurden. „Ich tue mehr für die Umwelt als jeder Politiker“, sagt er.

Brasiliens Präsident ist der Rechtsextremist Jair Bolsonaro. Er macht Umweltschützer verächtlich und hat den Umweltbehörden Gelder und Personal gestrichen. Umweltverbrechen werden unter ihm nicht mehr verfolgt und Sündern die Strafen erlassen. Es sind Männer wie Mario Moscatelli, Ricardo Freitas und Jefferson Pires, die ihm durch ihre Taten antworten.

ENDE